Kommentar Durststreik in Berlin: Ein unsicherer Kontinent
Sie sind in Sicherheit, aber sie spielen mit ihrem Leben: Welche Sprache sprechen die Hunger- und Durststreiks der Asylbewerber?
E s ist ein gewagtes Mittel und sicher kein Spaß: Mit einer radikalen Form des Protests wollen 28 Asylbewerber in Berlin auf ihre Situation aufmerksam machen. Seit Montag verweigern sie neben der Nahrungs- nun auch die Wasseraufnahme. Mit diesem Durststreik fordern sie die Anerkennung ihrer Asylanträge. Wer einen solchen Schritt wagt, begibt sich auf ein ethisch vermintes Terrain.
Denn ist es angesichts der zahllosen Opfer vor den Küsten Europas nicht zynisch, sich in Deutschland – also gerettet, an Land – nun selbst auf den symbolisch aufgeladenen Pfad des Todes zu begeben? Oder ist es, umgekehrt, gerade die Pflicht dieser Flüchtlinge, als Botschafter der Ausgeschlossenen mit ihren schärfsten Waffen das Leid um die migrationspolitische Katastrophe Europa ins Zentrum des Kontinents zu tragen?
Weder noch. Wer jetzt fragt, ob es legitim ist oder nicht, mit einem solchen Schritt Aufmerksamkeit zu erregen, hat die Dimension der Flüchtlingskatastrophe in Europa nicht erfasst. Der Durststreik treibt symbolisch auf die Spitze, was die Krankheit des europäischen Kontinents ausmacht: Es ist ein Kontinent, der politisch verunsichert ist.
Einerseits erzielen rechtspopulistische Parteien bei Wahlen europaweit Rekordergebnisse, andererseits ertrinken die Menschen in ungezählten humanitären Katastrophen vor den Toren des Kontinents. Politiker in ganz Europa finden ganz offenbar keine Antwort auf diese Unsicherheit, die unüberschaubar erscheint. Europa hat selbst keine Antwort auf seine angebliche humanitäre Idee.
Es gibt aber Menschen, die diese Unsicherheit nicht abstrakt, sondern am eigenen Leib erfahren. Das sind jene Flüchtlinge in Europa, die sich verlassen fühlen und isoliert. Ihre Schreie gehören dorthin, wo sie sind: ins Zentrum Europas, wo niemand sie hören will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an