Kommentar Auschwitz-Gedenken: Vom Dunkel der Diktatur ins Helle
Die NS-Geschichte ist in Deutschland kein Kampfgebiet mehr. Doch über den NS-Vernichtskrieg in der Sowjetunion hat auch Gauck kein Wort verloren.
BERLIN taz | Erinnerungspolitisch hat sich in der Bundesrepublik ein vernünftiger Konsens herausgebildet. Auch in offiziellen Gedenkreden wird mitunter in gedämpften Worten erwähnt, dass Nazifunktionäre in Westdeutschland nichts zu fürchten hatten. Die NS-Geschichte ist historisiert und kein Kampfgebiet mehr.
Die Rede von Joachim Gauck fügt sich in dieses Bild. Auschwitz ist offiziell als negativer Kern der Bundesrepublik anerkannt, ohne den es „keine deutsche Identität gibt“.
Der Bundespräsident hat viel Bedenkenswertes vorgetragen. Etwa, dass der Antifaschismus in der DDR ein Herrschaftsmittel war, das den Staat gegen Kritik imprägnierte. Oder dass Gedenken zum Ritual erstarren kann – allerdings ist dies selbst Teil jedes selbstreflexiven Gedenkrituals.
Das bundesdeutsche Erinnerungswesen neigt allerdings zu einer allzu bequemen Erzählung – bei Gauck führt der Weg am Ende recht pastoral aus dem Dunkel der Diktatur zur taghellen Empathie mit den Opfern.
Doch diese Strecke war mehr als nur kurvenreich. Zwangsarbeiter wurden knapp und spät entschädigt, andere, wie der griechische Staat, bis heute nicht. Es gibt keinen Grund für Selbstzufriedenheit, auch nicht für leise.
Geschichtspolitik ist hierzulande eingefriedet. In Warschau, Kiew und Moskau ist sie jedoch hart und rüde umkämpft. Polens Außenminister verkündete kürzlich fälschlicherweise, dass ukrainische, nicht russische Soldaten Auschwitz befreiten. Der Moralbonus des Sieges über Hitler sollte so Putin entwendet werden. Die russische Propaganda hingegen überzeichnet die Regierung in Kiew grotesk zu Wiedergängern der Nazis.
Hat das etwas mit uns zu tun? Allerdings. Gauck hat am 1. September in Polen kaum ein Wort über den NS-Vernichtungskrieg in der Sowjetunion verloren. Im Bundestag hat er nun den Rotarmisten gedankt, die Auschwitz befreiten. In knappen, sehr knappen Worten.
Die Wehrmacht hat drei Millionen Rotarmisten grausam verhungern lassen. Das ist seit Langem bekannt, aber nicht Teil des viel gelobten bundesdeutschen Erinnerungskonsenses. Stalins Soldaten eignen sich nicht so richtig als Opfer.
Gauck wird sich daran messen lassen müssen, ob er dafür Worte findet. So laut, dass sie in Moskau gehört werden. Seine Rede im Bundestag hat das Bundespräsidialamt ins Polnische, Hebräische und Englische übersetzt. Nicht ins Russische. Das ist das falsche Zeichen.
Leser*innenkommentare
Georg Schmidt
ein paar prominte Überlebende werden nun herumgereicht, dürfen nun von ihren Qualen berichten, man nickt mit dem Kopf und drückt sich eine Träne aus den Augen, im Schatten bleiben die vielen, die man vergessen hat, denen man ein paar €uro Rente zugesprochen hat. mich persönlich überkommt immer ein "Bischen" Wut, dieser Promiauflauf, in ihren dicken Dienstschlitten, fein gescheitelt und warm angezogen, man hält eine ausgewogene Rede, und das wars, dann fährt man wieder heim und wendet sich dem nächsten Thema zu!
738 (Profil gelöscht)
Gast
Er hätte natürlich auch das gesamte Kriegsgeschehen einfliessen lassen können, aber das hätte wohl den Rahmen der Rede gesprengt. Der Anlass war doch wohl eindeutig, oder?
Georg Schmidt
im Prinzip hab ich keine andere Rede erwartet, dem Ereigniss und der Tagespolitik angepasst!
vergessene Liebe
Hmmm Stefan Reinicke:
"..die russische Propaganda hingegen überzeichnet die Regierung in Kiew grotesk zu Wiedergängern der Nazis.."
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Ist das wirklich überzeichnet/grotesk frage ich dich?
Russland/Sowjetunion war doch, durch den Einmarsch der Wehrmacht und SS eine Art gigantisches Todeslager, dem mehr als 30.000.000 zivile Menschen und Soldaten ihr Leben lassen mussten!
Im Vergleich dazu sind ca. 6.000.000 zivile jüdische, gemordete Menschen, von denen ca. 1.000.000 gemordet in Ausschwitz, und all die gemordeten deutschen und europaischen Kommunisten, Sozialdemokraten, Sinti und Roma .. nicht zu vergessen!
Russland hat mit vielen Opfern gelernt den Ideologien des Nazismus und des Neonazismus nicht zu trauen!
Das der hässliche Bruderkrieg der da in den Ukraine im gange ist, auf der Seite der westlich fixierten Regierung in Kiew von Nazi und Neonazi Kräften gefördert ist, ist allgemein bekannt!
Die gegen Kiew gerichtete Reaktion der Krim und der Ostukraine, als Votum gegen Kiews sichtbare Nazi Elemente, ist, m.E. im Lichte der Geschichte, vollends begründet!
Russland hat begründet keinen Bock darauf neue Nazi Staaten an ihrer Westgrenze zu erlauben!
Das Herr Gauck so dermassen blöde agiert und die russischen Opfer der deutschen Nazi Ideologie ignoriert, und obendrein die harte Rolle Russlands in der Überwindung Nazi Deutschlands und der Befreiung von Ausschwitz brüskiert..
..das treibt Russland in eine, für die EU/BRD ungesunde Distanz!
Und es ist dem Frieden in der Ukraine nicht förderlich!
9076 (Profil gelöscht)
Gast
27 Mio. Sowjetbürger starben zwischen 1941- 1945!
Diese zahl findet zu wenig Erwähnung in Politik und Medien.
Passt auch nicht, jetzt wo der Russen wieder Feindbild ist.
lions
Vielen Dank für diesen Artikel ! Ein grausamer Teil der Geschichte wird für Tagespolitik missbraucht; Das stößt mir auch brennend auf. Hier, wenn auch sonst nicht, muss die Welt mit einer Stimme sprechen.
vergessene Liebe
Jaa! Ist echt scheisse das die Ausschwitz Nazi Greuel irgendwie tagespolitisch instrumentalisiert werden, um Russland als `neue globale Nazi Gefahr´ zu klassifizieren...
Wo bleibt die Wahrheitsliebe der säkulären Aufklärung?
Lowandorder
Danke - Herr Stefan Reinecke,
daß einer Ihrer Generation angesichts der allgemeinen Wirrnis
in Ost wie West; leider auch im Bundestag -
diese klaren Worte ausgesprochen hat und
dem wohlfeilen abgezirkelten Betroffensein - wenn´s denn nicht anders geht -
ohne wenn und aber entgegengetreten ist.