Kommentar Anti-Islam-Film: Ohnmacht über das Eigene
Die Wirklichkeit in den muslimischen Ländern ist komplizierter als die hiesige Wahrnehmung. Eine einfache Sicht der Dinge ist unangebracht.
K AIRO taz In den Medien macht gerade das Bild die Runde, in dem „die Muslime“ voller Hass „den Westen“ angreifen, untermalt von ein paar hundert, manchmal auch ein paar tausend Demonstranten, die auf den Emblemen westlicher staatlicher Souveränität herumtrampeln, während das Feuer lodert.
Gerne wird auch die Sequenz aus Khartum gezeigt, wo ein eifriger Rollstuhlfahrer fanatisch am Handpedal kurbelt, auf dem Weg zum Sturm der Deutschen Botschaft. Aber wird dieses Bild und diese Wahrnehmung der Wirklichkeit gerecht?
Sicher ist der Ärger über den provokativen Islam-Hass-Film unter vielen Muslimen groß. Eine derartige Verunglimpfung ihres Propheten überschreitet für viele eine rote Linie. Hinter so manchem Sturm auf die westlichen diplomatischen Vertretungen dürfte auch einiges mehr stecken als eine unmittelbare Wut auf das Machwerk im Netz. Es ist ein ganzer Rattenschwanz.
Dazu gehört nicht nur der angestaute Frust über eine häufig empfundene westliche Arroganz, die selbst vor dem für die Muslime Heiligsten nicht haltmacht, und die sich im politischen Umgang niederschlägt.Hinzu kommt die kollektive Erinnerung an westliche militärische Interventionen in der Region.
Arabischer Frühling
Eine Rolle spielt überdies das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Der arabische Frühling produziert nicht schnell genug die gewünschte positive Veränderung und hat über Nacht weder Arbeitsplätze noch Wohlstand geschaffen. Und in Ländern wie dem Sudan hat er überhaupt noch nicht Einzug gehalten.
Dort hatten Demonstranten nach bekanntem Muster in den letzten Monaten immer wieder wegen der hohen Lebensmittelpreise gegen den Diktator Omar Baschir protestiert. Da kamen diesem die Ereignisse der vergangenen Tage als Ablenkungsmanöver vielleicht gerade recht.
Apropos Arabischer Frühling, dessen Ende viele so gerne auch im Zusammenhang mit den Angriffen auf die Botschaften prophezeien. Es gibt einen neuen Faktor, mit dem nun in dieser Region kalkuliert werden muss, und das ist die arabische öffentliche Meinung. Erinnern wir uns an den dänischen Karikaturen-Streit vor sechs Jahren.
Der gestürzte ägyptische Diktator Hosni Mubarak hatte die damaligen Proteste kurz zugelassen, um dann autokratisch den Deckel darauf zu setzten und sein übliches Credo „Wenn ihr Sicherheit und Stabilität wollt, dann unterstützt mich“ verlauten zu lassen.Die Diktaturen hatten aus den dänischen Karikaturen Nutzen gezogen.
Die öffentliche Meinung miteinkalkulieren
Sogar in Syrien durfte damals demonstriert werden. Die Diktaturen hatten das Ventil kurz geöffnet, nach dem Motto: „Besser die Menschen demonstrieren gegen das kleine Dänemark als gegen das eigene Regime."
Die heutigen Regierungen, politischen Parteien und Bewegungen in Kairo, Tripolis oder Tunis müssen sich dagegen demokratisch legitimieren. Sie wollen gewählt werden. Sie müssen die öffentliche Meinung berücksichtigen. Und genau deswegen ist die Reaktion auf den neusten Anti-Islam-Film auch ein Kampf um die Köpfe.
Wer gewinnt ihn? Die radikalen Islamisten und Salafisten, die vor den Botschaften ihr Unwesen treiben? Militante islamistische Gruppierungen wie Al-Qaida, die nun ihre Chance wittern, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, nachdem sie mit dem Arabischen Frühling fast in Vergessenheit geraten waren?
Oder doch die moderaten, islamisch-konservativen Bewegungen, wie die ägyptische Muslimbruderschaft, die ursprünglich auch von dem Ärger gegen den Film profitieren wollte und die versuchte, diesen in einem friedlichen Millionen-Marsch zu kanalisieren, den sie dann aber vergangenen Freitag in allerletzter Minute abgesagte, aus Angst, die Lage nicht kontrollieren zu können?
Liberale und säkuläre Kräfte
Oder werden am Ende doch liberale und säkulare Kräfte einen Schritt nach vorne machen, weil viele Araber von dem Film genauso schockiert sind, wie von der Reaktion darauf? Hier von der "durchgedrehten islamischen Welt“ zu reden, ist viel zu simplistisch.
Es ist einfach, sich nur auf die paar hundert oder manchmal auch ein paar tausend Menschen zu konzentrieren, die die Botschaften medienwirksam in Schlachtfelder verwandelt haben. Der neuen Dynamik des Kampfes um die muslimischen und arabischen Köpfe wird diese Wahrnehmung allerdings nicht gerecht.
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