Kommentar Anschläge in der Türkei: Folgenreiche Geiselnahme
Ob Geiselnahme, Stromausfall oder die Besetzung eines AKP-Büros: Die die daraus enstehende Verunsicherung nützt der türkischen Regierung.
A m Dienstag wurde in der Türkei erstmals ein tödlicher Anschlag im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 verübt. Mutmaßliche Mitglieder der linksterroristischen DHKP/C sollen einen Racheakt für den damals von der Polizei getöteten 15-jährigen Berkin Elvan verübt haben, der zu einer Symbolfigur des Protests geworden war.
Am Mittwoch wurde von unbekannten Bewaffneten ein örtliches Parteibüro der regierenden AKP gestürmt, doch die Polizei konnte die Besetzung unblutig beenden. Dazu kam ein landesweiter Stromausfall, der acht Stunden andauerte und für den die Verantwortlichen keine befriedigende Erklärung haben.
In zwei Monaten finden Parlamentswahlen statt. Erstmals nach drei Wahlsiegen in Folge ist die AKP von Präsident Erdogan in der Defensive. Innerhalb der Partei gibt es Streit über die Kompetenzen von Präsident und Regierung, viele bekannte AKP-Abgeordnete dürfen nicht wieder antreten. Dazu kommt, dass das Wirtschaftswachstum, wichtigster Grund für Erdogans bisherige Erfolge, vorbei ist. Die Türkei nähert sich dem Nullwachstum, die Arbeitslosigkeit steigt.
In dieser Situation geschehen plötzlich gehäuft Dinge, die die Bevölkerung massiv verunsichern. Auch wenn es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Geiselnahme, Stromausfall, besetzter Parteizentrale und der Wahl gibt: Verunsicherte Wähler neigen dazu, ihre Stimme dem Bekannten statt einer Alternative zu geben. Der Regierung kommt diese Stimmung also entgegen – sie hat die Sicherheitsgesetze bereits verschärft.
Man darf gespannt sein, was in den kommenden Wochen noch auf die Türkei zukommt. Einige Kommentatoren befürchten bereits, dass die Armee Zwischenfälle in den kurdischen Gebieten provozieren könnte. Der Wahlkampf droht heiß zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind