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Kommentar 65. Jahrestag GrundgesetzZwei wegweisende Reden

Daniel Bax
Kommentar von Daniel Bax

Wichtige Worte: Bundespräsident Gauck und der Autor Navid Kermani haben sich Gedanken zu Deutschland und seinem Wertefundament gemacht.

Lobte, aber mahnte auch: Navid Kermani im Bundestag. Bild: dpa

E s gibt nicht viele Länder, in denen ein Nachfahr von Einwanderern bei einer hohen Feierstunde im Parlament eine Rede halten kann – schon gar nicht, wenn er einer anderen Religion angehört als die Mehrheit. Deutschland sei so ein Land geworden, betonte der deutschiranische Schriftsteller Navid Kermani, der am Freitag zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes im Bundestag sprach.

Er hob dies auch hervor, um dem iranischen Botschafter, der als Gast auf der Tribüne saß, eine Botschaft mitzugeben: Er sei sich sicher, dass auch im Parlament in Teheran bald schon ein Christ, ein Jude oder ein Bahai eine Festrede halten werde.

In seiner Rede las Navid Kermani aber auch den Repräsentanten des deutschen Staates – Merkel, Gauck und den versammelten Abgeordneten – die Leviten. Zunächst lobte er, ganz Literat, die sprachliche Schönheit des Grundgesetzes und dessen visionären Gehalt: Das habe „Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes“. Das ist das Gegenteil von Populismus. Denn hätten sich die Autoren an Umfragen orientiert und nicht an ihren Überzeugungen, wäre das Ergebnis ganz anders ausgefallen, mahnte Kermani mit Blick auf die Abgeordneten vor ihm.

Besonders scharf kritisierte Kermani folglich den „Asylkompromiss“ von SPD, FDP und Union aus dem Jahr 1993, mit dem das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde. Er wünsche sich, dass das Grundgesetz bis zu seinem 70. Geburtstag von diesem „hässlichen, herzlosen Fleck“ gereinigt werde, so Kermani beherzt. Deutschland müsse „nicht alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt aufnehmen“. Doch es habe „genug Ressourcen“, um mehr für Flüchtlinge zu tun, etwa solche aus Syrien.

Klare Worte vom Bundespräsidenten

Auch Bundespräsident Joachim Gauck hatte einen Tag zuvor, bei einer Einbürgerungsfeier für 23 Einwanderer im Schloss Bellevue, eine Rede gehalten über das Grundgesetz, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation und das, was dieses Land zusammenhält.

Ausdrücklicher als je zuvor plädierte Gauck dabei für mehr Offenheit gegenüber Einwanderern. Es gebe „ein neues deutsches 'Wir', die „Einheit der Verschiedenen“, erklärte er. Die Bundesrepublik habe sich zu lange „die Illusion erlaubt, sie müsse sich nicht gleichfalls ändern“, kritisierte er.

Die doppelte Staatsbürgerschaft sei „Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von Menschen“, fuhr er fort und mahnte zudem ein gerechteres Bildungssystem und eine größere „geistige Öffnung“ in Schulen, Behörden und Redaktionen an.

Diese Themen sind brennend aktuell in einer Zeit, in der Deutschland als Einwanderungsland so beliebt ist wie noch nie. Doch was macht Deutschland so attraktiv?

„Neues deutsches Wir“

Kermani verwies auf die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, den sozialen Ausgleich und die beruflichen Chancen, von denen auch Einwanderer profitierten. Dafür bedankte er sich am Ende seiner Rede ausdrücklich. Zugleich machte er gerade Deutschlands nationale Selbstzweifel sowie die Demut, die in Willy Brandts Kniefall von Warschau zum Ausdruck gekommen sei, als Grund dafür aus, warum er so etwas wie Stolz auf seine Zugehörigkeit zu diesem Land empfinde könne.

Beide, Kermani und Gauck, haben wegweisende Reden zu Deutschland und seinem Wertefundament gehalten. Während Gauck mehr Offenheit gegenüber Einwanderern einforderte, mahnte Kermani diese Offenheit auch gegenüber Flüchtlingen an. Beides ist geboten.

Anders als Gauck hatte Kermani aber auch das richtige Publikum vor sich. Von Gauck wünscht man sich, dass er seine wichtigen Worte noch einmal am 3. Oktober, zum Tag der Deutschen Einheit, wiederholen möge. Erst dann wissen wir, ob es dieses „neue deutsche Wir“, von dem er spricht, auch wirklich schon gibt.

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Daniel Bax
Redakteur
Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er wurde 1970 in Blumenau (Brasilien) geboren und ist seit fast 40 Jahren in Berlin zu Hause, hat Publizistik und Islamwissenschaft studiert und viele Länder des Nahen Ostens bereist. Er schreibt über Politik, Kultur und Gesellschaft in Deutschland und anderswo, mit Fokus auf Migrations- und Religionsthemen sowie auf Medien und Meinungsfreiheit. Er ist Mitglied im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher:innen (NdM) und im Beirat von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Er hat bisher zwei Bücher veröffentlicht: “Angst ums Abendland” (2015) über antimuslimischen Rassismus und “Die Volksverführer“ (2018) über den Trend zum Rechtspopulismus. Für die taz schreibt er derzeit viel über aktuelle Nahost-Debatten und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW).”
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4 Kommentare

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  • Kermani hat schlicht recht und legt den Finger in die Wunde.

     

    Vor der den Geist und politischen Willen der Mütter und Väter

    des Grundgesetzes, vor allem aber die Menschen verachtenden

    Schleifung des verfassungsgarantierten Menschenrechts auf Asyl,

    (einschl. des sog. Non-refoulement=Asyl in! 'schland!)

    sagte der Verfassungsrichter Jürgen Kühling

    anläßlich der von vielen (Verwaltungs)RichterInnen & AnwältInnen bundesweit getragenen Aktion - Fünf-vor-Zwölf -

    im Spiegel:

    " Wir beseitigen eines der grundlegenden Verfassungsartikel

    - entstanden wegen unserer Geschichte - ohne Not,

    nur weil wir schlecht organisiert sind!"

     

    Aber schlimmer geht immer -

    die Grokofantin entblödet sich nicht, eine singuläre EuGH-Situation

    unmittelbar vor der Europa-Wahl zu instrumentalisieren,

    um am äußersten rechten Rand " abzuräumen"!

    Ekelhaft & geschichtsvergessen - Kermani hat ersichtlich mehr als recht.

     

    Zu unserem platten Kuckuck schweigt des Sängers Höflichkeit: wasch mir den

    Pelz - aber mach mich nicht naß.

  • Es sieht schlecht aus mit dem Grundgesetz, denn „Führungskräfte mit Macht verhalten sich tendenziell wie Menschen mit einem Hirnschaden“, so Prof. Dacher Keltner (University of California, Berkeley) seine Forschungen zusammen. (vgl. http://www.leadion.de/artikel.php?artikel=0901 ).

    Beispiel: "Die Bundesrepublik ist ein sozialer Rechtsstaat." Diese Festlegung des Grundgesetzes wird nach Beobachtungen der Humanistischen Union (HU) mehr und mehr zur Makulatur.

  • Komm'n se rinn, könn' se rausgucken!

     

    Immer rein mit der feinen Belegschaft. Wenn die Ausländer im Zwirn über Grundgesetze philosophieren, kann man ja wirklich nüscht dagegen haben!

    Oder?!

    Naja, also ick bin mal janz vorsichtich, und sage: mit Nachdenken über Werte hat das nich so viel zu tun. Iss doch mehr so ne Feiertagssoße, nüscht?

    Hab schon mal was mit Denken und Werten jelesen, dat war spannender und komplizierter. Watte mal, ick komm nich mehr drauf, von wem det Buch war, Friedrich Lietsche, oder so... Keene Ahnung, war aber nich schlecht!

  • Hat sich Bundespräsident Gauck Gedanken zum Grundgesetz und Deutschlands Wertefundeament gemacht? Ist er für Offenheit gegenüber Einwanderern? Warum interessiert es ihn dann nicht, daß Deutschland außerhalb des Nahen Ostens weltweit das Land mit der größten tscherkessischen Diaspora ist, diese Diaspora just in diesen Tagen eines Völkermordes gedenkt, der vor 150 Jahren stattgefunden hat, aber immer noch in keinster Weise politisch aufgearbeitet ist? Warum reagiert er weder auf Schreiben von Seiten der Tscherkessen noch auf eine öffentliche Petition? Ist das sein Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Ist es ihm egal, wenn eine seit 150 Jahren verfolgte, repressierte und vergessene Minderheit auch heute noch vom öffentlichen Diskurs IN DEUTSCHLAND weitestgehend ausgeschlossen wird und diejenigen, die dazu arbeiten, noch gleich mit dazu? Ist Politik nur noch eine selbstreferentielle Veranstaltung im Insider-Kreis, oder kann man hin- und wieder auch noch darauf hoffen, sich als StaatsbürgerIn in irgendeiner Form beteiligen und einbringen zu dürfen? Zur abgeschlossenen aber unbeantworteten Petition geht es hier: https://www.change.org/petitions/bundespr%C3%A4sident-joachim-gauck-sochi-2014-include-circassians-in-public-debate-tscherkessen-in-%C3%B6ffentliche-debatte-einbeziehen-%C3%A7erkesler-de-g%C3%BCndeme-al%C4%B1nmal%C4%B1