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Kommentar 1-Euro-JobsKannibalisierung regulärer Arbeit

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Zwei Drittel der 1-Euro-Jobs erfüllen nicht die nötigen Bedingungen. Mit den Billig-Jobs wird ein großangelegter Mißbrauch betrieben.

E s ist nur die letzte Wendung einer Misserfolgsstory. Staatsanwälte ermitteln gegen den Chef eines Jobcenters wegen Untreue, weil er Arbeitslose in schwammig definierte 1-Euro-Jobs vermittelte. Juristisch erreicht der Streit über die unter Rot-Grün eingeführten Maßnahmen nun eine neue Ebene: die des Strafrechts. Noch ist nicht sicher, ob es zum Prozess kommt und - wenn ja - wie die Richter entscheiden. Doch falls am Ende ein Gericht den Mann schuldig spricht, könnte dies das Ende der 1-Euro-Jobs einleiten.

Zwei Effekte wären wahrscheinlich: Einerseits könnten sich viele Arbeitslose den Fall zum Vorbild nehmen und Behördenmitarbeiter anzeigen, wenn sie Aufgaben erledigen sollen, für die eigentlich Festangestellte zuständig sind. Andererseits würden auch Jobcenter-Mitarbeiter in Zukunft mehr Vorsicht walten lassen und die "Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung", so die Bezeichnung im Amtsdeutsch, nur anordnen, wenn die Grenze zu echten Jobs klar zu ziehen ist. Denn alle Untersuchungen belegen: In der Praxis ist diese Kannibalisierung regulärer Jobs die Regel. Erst Ende Juli hat der Bundesrechnungshof Grundsatzkritik geübt. Zwei Drittel der untersuchten 1-Euro-Jobs erfüllen nicht die nötigen Bedingungen, stellten die Prüfer fest. In Deutschland findet also ein groß angelegter Missbrauch der 1-Euro-Jobs statt. Anders gesagt bezuschusst der Steuerzahler über 1-Euro-Jobs Stellenabbau in Kitas, Altersheimen und Behörden.

Auch politisch ist das arbeitsmarktpolitische Instrument gescheitert. Es hat sich als Illusion erwiesen, dass Firmen massenhaft 1-Euro-Jobber in feste Stellen übernehmen. Der von Rot-Grün damals beworbene Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt ist die absolute Ausnahme. Dennoch erleben viele 1-Euro-Jobber ihre neue Aufgabe durchaus als erfüllend. Sie werden gebraucht, bekommen Rückmeldung, fühlen sich wertvoll, trotz der lächerlichen Bezahlung. Das ist die Ironie der 1-Euro-Jobs: Ausgerechnet sie widerlegen das ewige Klischee vom faulen, lernunwilligen Arbeitslosen am besten.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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3 Kommentare

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  • H
    Hans

    "durchaus als erfüllend" empfand eine Bekannte es allerdings nicht in einer Tafel-Einrichtung die Drecksarbeit zugeschustert zu bekommen.Im abgetrennten Raum wurde ihr die Neuware gebracht (häufig stinkend, mit Schimmelbefall) von der sie dann das brauchbare auszusortieren hatte während die netten alten Damen im Vorderzimmer die verteilung des "genießbaren" resp. das was sie dafür hielten übernahmen.Möge das Ende der 1€-Jobs eingeläutet werden, Reichsarbeitsdienst hatten wir doch schon einmal (PS Die Tafel hat laut Auskunft des Bundesverbands ca 20 % solcher Mitarbeiter)

  • MS
    Michael Sauter

    gut dass Sie über den Vorfall in Recklinghausen berichten!

     

    Aus meiner Erfahrung mit Arbeit im Altenpflegeheim weiß ich, dass jede und jeder mit 100% Sicherheit voll zur Arbeit eingesetzt wird - egal ob es ein 17jähriger Schüler ist oder eine 52jährige Schwester in der Nachtschicht. Alle müssen sofort ran.

    Das war auch in Recklinghausen sicher die Denkvoraussetzung.

    Auch ohne Pflegehelferschein müssen alle die vollständige Betreuung leisten, ab dem 1. Tag, außer der Medikamentenzuteilung. Putzen und Aufräumen gehört dazu, versteht sich von selbst. Die Schicht-Einteilung ist meist kurzfristig, und jede Aushilfe. also auch die "1-Euro-Jobber", müssen springen, wo sie gerade gebraucht werden.

     

    Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum der Leiter des Jobcenters angeklagt werden soll.

    Nun, in seinem Fall war es eine Art Insiderdeal, aber, dass 1-Euro-Jobs reguläre Stellen ersetzen würden, und zugleich nicht sozialversicht sind und dazu Pflichtarbeit ohne Streikrecht, wussten wir von Beginn an. Das ist nichts Neues.

    Die staatlich induzierte Lohnsenkung war 2004 und bereits 1999 intendiert.

     

    Es ist richtig: neben der Bundesregierung und ihren Vorgängern müssten auch alle anderen Leiter der Jobcenter angeklagt werden, wegen Beihilfe zum Lohnwucher und wegen Nötigung.

    Wir würden gerne die Entschädigung für erlittenes Unrecht ausgezahlt bekommen.

  • BW
    bernhard wagner

    Richtig, dieses 1-Euro Modell ist Schwachsinn.

     

    Einige Schritte in eine andere Richtung wäre z.B. durchzusetzen:

    -- 35 reguläre Arbeitsstunden wöchentlich,

    -- Stundenlohn netto ca. 15 bis 20 Euro,

    und zwar für alle, auch Angestellte und Beamte, auch in 'höheren' Etagen.

    -- Grundsicherung bei geringem Einkommen, z.B. bei Erwerbslosigkeit, Krankheit, Rentenalter

    -- sehr viel stärkere Maßnahmen gegen zu hohe Mieten (inklusvie Mieten für gewerblich genutzte Flächen/Räume).

    -- Verhinderung von Scheinselbständigkeit, und

    Verringerung des 'informellen' Sektors.

    -- hohe Steuern auf Spekulationsgewinne

    -- hohe Schadstoffemissionssteuer, inkl. für Schiffe u. Flugzeuge (als Schadstoffe gelten z.B. Feinstaub, Kohlen- und Stickstoff-Oxide u.s.w.)

    -- geringere 'Mehrwertsteuer'

    -- keine Umsatzsteuer, aber eine Art von Vermögenssteuer für Privatvermögen jeder Art (auch Immobilien), die nicht direkt zum Laufen einer Firma eingesetzt werden und den Wert von 1 Mio Euro je Person übersteigen.

    -- Umfassendes, staatlich vorangetriebenes Programm eines 'ökologischen Umbaus' im Bereich Energieversorgung, Lebensmittelproduktion, Verkehr, Wohnen etc.

    -- kostenlose Schulbildung u. Ausbildung

    -- kostenlose Gesundheitsversorgung, Ausnahmen: Folgen von Risiko-Sportarten, Tabakkonsum etc, je nach finanzieller Belastbarkeit der betreffenden Person.