Kolumne: Meine Nächte in der Stasi-Suite
Im Berliner Hotel "Ostel" kann man übernachten wie in der DDR. Da stimmt sogar der nicht vorhandene Servic
Bevor ich in fremde Städte reise, überlege ich mir, wo ich übernachte. Das sollen andere Menschen ja auch tun. Nein, was ich meine, ist: Ich überlege mir vorher genau, ob ich einen Freund, eine Freundin oder eine Ex-Freundin in jener Stadt anrufe, um dort zu schlafen, oder ob ich ein Hotelzimmer miete. Dabei spielen die Kosten nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl: Mit einer Flasche Wein als Gastgeschenk (ca. 8 Euro) plus einer Essenseinladung als Dankeschön für den Gastgeber (ca. 30 Euro) ist man schnell in der Zwei-Sterne-Preisklasse gelandet. Schwerer wiegen die Fragen: Erwartet jemand meinen Besuch? Wer wäre beleidigt, erführe er im Nachhinein davon?
Mir ist oft unwohl dabei, Freunden dicht auf den Leib zu rücken. In einer fremden Wohnung das Klo zu benutzen. Mit meinem Schnarchen vielleicht sogar den Schlaf der Gastgeber zu stören. Nachts auf der Suche nach Wasser über anderer Menschen Schuhe zu stolpern. Ich beschloss, auf meiner kurzen Reise nach Berlin ein Hotel zu nehmen. Berlin ist schließlich groß genug, um sich vor Freunden zu verstecken. Sie werden einem nicht gerade auf dem Kudamm begegnen oder abends in einem Kreuzberger Schiffslokal am Nebentisch sitzen.
Philipp Maußhardt (49) ist Mitglied der Reportage-Agentur "Zeitenspiegel" und hat große Angst davor, seine Leser zu langweilen oder einzuschläfern. Darum klatscht er beim Schreiben oftmals laut in die Hände in der Hoffnung, dass sie es beim Lesen hören.
Ich kenne keine andere Metropole in Europa, ja auf der ganzen Welt, wo die Hotels so billig sind wie in Berlin. In Rom zahlt man für ein Loch schon 100 Euro. In New York schläft man für unter 200 Dollar nur mit Kakerlaken im Bett. Paris, Hongkong, Tokio hört mir davon auf. Aber Berlin. "Ab 9 Euro können Sie hier übernachten", sagte die Stimme am Telefon des Hotels, das ich ziemlich wahllos angerufen hatte, und fügte hinzu: "Das ist dann ein Mehrbettzimmer im Pionierlager." Erst verstand ich nicht. "Nein, ich möchte schon ein Einzelzimmer." Die Stimme empfahl mir: "Dann nehmen Sie doch die Stasi-Suite."
Ich war im "Ostel" gelandet, einem Hotel im "DDR-Desgin". 59 Euro für die Stasi-Suite, mir kam das günstig vor und ich bestellte.
Das "Ostel" befindet sich nicht weit vom Ostbahnhof in einem Plattenbau aus den 70er-Jahren. Hässlicher geht es nimmer. Davor steht eine Backsteinruine, dahinter liegen Supermärkte. Neben der Rezeption läuft ein Fernseher, auf dem Fidel Castro seinen lieben Erich Honecker herzlich begrüßt, und von der Wand lächelt das Mitglied im Zentralkomitee, Horst Sindermann, herab. Ansonsten tat die junge Frau am Empfang, als wäre das "Ostel" ein richtiges Hotel, und gab mir den Schlüssel.
Meine Stasi-Suite lag im vierten Stock, natürlich ohne Aufzug. Ein Tisch, eine Couch, zwei Betten, eine Grünpflanze und ein Rundfunkgerät der Marke "Prominent". Ich hatte mir etwas mehr Komfort versprochen. An der Wand: DDR-Tapeten, das Gemeinschafts-Badezimmer auf dem Flur, kein Schränkchen weit und breit mit Rotkäppchensekt oder rumänischem Weinbrand.
Durstig und etwas verwirrt fragte ich die junge Frau an der Rezeption nach einem Getränk. "Ham-wer-nich." Draußen herrschten immerhin 34 Grad, und ich wollte gerade zu einer längeren Rede ansetzen, das Ganze sei ja nun wohl doch etwas übertrieben und im Westen käme man mit dieser Einstellung nicht weit. Als sie mich anlächelte und mir ein Glas Orangensaft einschenkte. Aus ihrer privaten Flasche.
Ich saß schon eine Zeit lang zufrieden wegen der erwiesenen Gnade auf einem freien Stuhl im Nachbarzimmer der Rezeption, als ein junger Mann mir bedeutete, dies sei sein Arbeitsplatz. Nun ja, ich musste sowieso gehen. Ich hatte die nächsten Tage beruflich zu tun im KaDeWe.
Das Kaufhaus des Westens liegt eine halbe U-Bahn-Stunde vom Hotel des Ostens entfernt. Ich grüßte Herrn Sindermann im Hinausgehen, stolperte auf dem Weg zum Ostbahnhof über die unebenen Betonplatten des DDR-Gehsteigs und kam wenig später am Wittenbergplatz wieder ans Tageslicht. 240 Champagner-Sorten. 1.800 verschiedene Käse. Korsische Feigenmarmelade und 42 verschiedene Butter-Packungen. Ich lief durch den sechsten Stock des KaDeWe und traute meinen Augen nicht. Wäre ich im "Adlon" abgestiegen, ich wäre gelangweilt durch die Feinschmecker-Abteilung gelaufen. Aber ich kam aus dem "Ostel". Ich sah alles wie zum ersten Mal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen