Kolumne: So weit die Füße denken
Ich vergesse alles. Keine böse Absicht. Ich war es nicht, es waren die Gene, die Umwelt und mein Gehirn
I ch gestehe. Ja, ich habe gestern Abend wieder das Licht in der Küche brennen lassen. Und vergessen, den Geschirrspüler auszuräumen. Und weil ich es ebenfalls versäumt habe, einen zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche eines getragenen Hemdes zu nehmen, ist die frisch gewaschene Wäsche jetzt mit kleinen und gut anhaftenden Papierkrümeln verziert. Ja, ich habe falsch geparkt, deshalb schreibt mir heute der Polizeipräsident mal wieder einen Brief. Auch das Finanzamt schreibt und will Geld, das ich schon längst hätte überweisen müssen. "Denkst du mit dem Hirn? Oder doch mit den Füßen?", fragt meine Freundin. Wir werden das diskutieren müssen. Das - und alles andere.
Stefan Kuzmany, 34, lügt wie gedruckt. Auch online. Aber nur in seiner Gonzo-Kolumne. Andererseits: Auch diese Information könnte eine Lüge sein
In solchen Diskussionen hatte ich bisher einen schweren Stand. Warum habe ich das Licht brennen lassen? Weil ichs vergessen habe. Ebenso den Zettel. Und das Geschirr. Und die Steuer. Und falsch parken musste ich, weil ich sonst zu spät gekommen wäre. "Ich glaube nicht, dass du das alles vergessen hast. Ich glaube, du willst einfach nicht daran denken. Und das ist nicht gut", sagt meine Freundin. Doch, beteuere ich. Alles vergessen. Keine böse Absicht. "Wenn du doch alles vergessen hast, dann wäre das allerdings noch schlimmer", sagt meine Freundin. "Das würde bedeuten: Du bist erschreckend doof." "Aber ", sage ich, und sie sagt: "Oh Gott. Hoffentlich wird unser Kind mal nicht so. Zwei solche Typen, das könnte ich nicht ertragen." Kopfschüttelnd ab. Und ich stehe da.
So kann es nicht weitergehen. Und wird es auch nicht. Denn wie immer, wenn ein menschheitsbedrohendes Problem die, äh, Menschheit bedroht, kommt irgendwo ein Wissenschaftler daher und erfindet eine Lösung. Oder zumindest eine Erklärung. In meinem Fall lautet die: Ich kann nicht anders. Denn die Hirnforschung, lesen Sie es nur nach im neuen Spiegel, sagt ganz eindeutig: Es gibt keinen freien Willen. Alles ist gesteuert von Dingsbums, Neuronen und so, und da kann einer noch so guten Willens sein, alles Illusion, weil es den Willen eben nicht gibt. Weder den guten noch den bösen.
Man muss sich das so vorstellen wie bei Homer Simpson - bei dem steckt, wie wir aus der neunten Episode der zwölften Staffel der "Simpsons" wissen, ein Stift im Gehirn, der seinen IQ auf traurige 55 Punkte drückt. Er kann also nicht anders, als so zu sein, wie er ist. Das würde übrigens auch erklären, warum ich nie einen Stift finde, wenn ich einen brauche: Steckt er etwa in meinem Hirn? Nein, wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht doch etwas anders als bei Homer und sein Beispiel nur ein Vorwand, um für den wunderbaren Simpsons-Film Werbung zu machen, den gesehen zu haben mindestens so wichtig ist wie den Al-Gore-Film gesehen zu haben - nur lustiger.
Nein, dass sie mit einer Art Homer Simpson zusammenlebt, kann ich meiner Freundin schlecht sagen. Aber auch ohne Homer: Nicht ich bins gewesen, sondern mein Hirn, sage ich meiner Freundin, und was soll sie dann noch antworten? Gegen die Wissenschaft ist selbst weibliche Vernunft machtlos. Und nicht nur ich bin frei von Schuld - alle anderen sind es auch. Es gibt keine Täter mehr, es gibt nur noch Opfer der Biologie. Sarkozy musste eine große Show abziehen und Gaddafi ein Atomkraftwerk versprechen, er konnte nicht anders. Kohl hatte keine andere Wahl, als sein Ehrenwort zu halten. Selbst Markus Söder trägt keinerlei Verantwortung für den Unsinn, den er den lieben langen Tag verzapft. Und die Menschen, die ihn wählen, ebenfalls nicht. Ja, wenn man es genau betrachtet, ist der gesamte Lauf der Welt seit Anbeginn vorherbestimmt, alles ist so, wie es sein muss, sie kann gar nicht anders sein. Und wer denkt, sie könnte anders sein, der hat die Erkenntnisse der Hirnforschung verschlafen. "Soso", sagt meine Freundin. "Aber auch große Hirnforscher müssen irgendwann den Geschirrspüler ausräumen, weil sie sonst mächtigen Ärger mit ihrer Freundin bekommen, was übrigens sofort bewiesen werden kann."
Da wurde mir klar: Sie ist eine gefährliche Wissenschaft, diese Neurobiologie.
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