Kolumne Wir retten die Welt: Die Ohnmacht der Gewohnheit
Die Generation der Nachnachkriegskinder ist mit dem Gefühl aufgewachsen: Es wird schon gut gehen. Mit etwas Pech führt es direkt in den Abgrund.
E s war einer dieser Momente, für die das Bergsteigen erfunden wurde: Blauer Himmel, knallende Sonne, ein 360-Grad-Panorama über die Alpen. Unter uns lag der Vierwaldstättersee unter einer dichten Wolkendecke, am Horizont der schneebedeckte Alpenkamm mit Eiger, Mönch und Jungfrau. Wir hatten einen dreistündigen Aufstieg zum Mittaggüpfi gleich neben dem Luzerner Hausberg Pilatus hinter uns und genossen auf 1917 Metern über Normallnull die kalten Wurststullen. Ein herrlicher Tag. Mit einem kleinen Schönheitsfehler. Es war der 29.Dezember. Und es lag kein Fitzelchen Schnee.
In unserer Wandergruppe herrschte eitel Sonnenschein. Wir hatten den steilen Weg ohne Steigeisen oder Pickel geschafft, die Schweizer Jugend sogar in dünnen Kapuzenpullis und Turnschuhen. Die Jugend hält sich ja eh für unsterblich. Bis auf ein paar wenige eisige Wegstellen und tiefgefrorene Schneereste „war das wie Wandern im Oktober“, sagte unser Schweizer Freund Alexander.
Das sollte mich beruhigen. Aber es machte mich nervös.
Weihnachten ohne Schnee gäbe es halt immer mal wieder, sagten die Ureinwohner. Sicher, dachte ich, aber so völlig oben ohne? Mit Waldbrandgefahr wegen der Trockenheit? Die regelmäßigen Horrornachrichten von der Ökofront härten ja auch ab. Die Arktis schmilzt, die Antarktis bröckelt und der Golfstrom schwächelt auch schon wieder. Wüsten fressen unser Ackerland. 40 Prozent der Wirbeltiere haben wir ausgerottet, die Korallenriffe bleichen uns weg…(Bitte fügen Sie hier Ihren ganz persönlichen Weltuntergang ein.)
Im Dezember kein Schnee auf 1900 Metern. Na und?
Und? Stört uns das?
Eher nicht. Wir haben uns an die Katastrophe in Trippelschritten gewöhnt. Es ist die Ohnmacht der Gewohnheit. Würde eine dieser Katastrophen morgen früh mit einem Knall und einer dicken schwarzen Wolke eintreten, gäbe es Krisenstäbe und Live-Berichte. Sogar Donald Trump würde twittern: „HILLARY IST SCHULD!!!“ Aber so? Gewöhnen wir uns halt an das neue Normal-Null. „Shifting Baselines“ sagen Experten: Eine Auge zudrücken und das andere nicht aufmachen. Vielleicht verdrängen wir schleichenden Verfall auch, weil es uns genau so ergeht: Sobald man erwachsen ist und halbwegs klar denken kann, setzt ja körperlich der Freie Fall ein. Was mir mein linkes Knie beim Abstieg vom Mittagsgüpfi auch wieder deutlich machte.
Die meisten von uns können sich gar nicht vorstellen, dass etwas richtig schief geht. Wir Nachnachkriegskinder zumindest in Deutschland sind aufgewachsen im Glauben, dass es schon nicht so schlimm kommen wird. Waldsterben, Atomraketen und -kraftwerke, Helmut Kohl, das haben wir alles locker überlebt. Auch wenn es manchmal echt knapp war. Das Ozonloch hat die Menschheit zum Beispiel nur durch eine glückliche Verkettung von Zufällen rechtzeitig entschärft. Egal. Vergessen. Wir haben heute zwar Angst vor Terror und Feinstaub, aber eigentlich denken wir: Jetzt mal ganz ruhig hier. Uns kann keiner. Es ist noch immer gut gegangen. Und es stimmt ja, dass wir Reichen unter dem Klimawandel vor allem dann leiden, wenn wir zu Weihnachten nicht Ski fahren können.
Als wir nach drei herrlichen Bergtouren die Schweiz verlassen, schreibt die Zeitung: Am Tag unseres letzten Ausflugs ist am Pilatus ein Wanderer mehrere hundert Meter in den Tod gestürzt.
Es geht nicht immer gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz