Kolumne Vollbart: Dieser Narzissmus bringt uns noch um
Früher war alles "real" und nicht so ironisch, es gab keine Bärte, aber alle schrieben Briefe mit echter Tinte. Sie erinnern sich doch, oder?
F rüher war alles besser. Die Menschen lasen noch Bücher, in der U-Bahn hielten alle Zeitungen hoch und überhaupt haben alle mehr nachgedacht. Dieses Internet hat aber alles kaputtgemacht, weil es ja alle ständig zur Zurschaustellung ihrer selbst zwingt. Dieser Narzissmus bringt uns alle noch einmal um.
Früher hingegen waren die Leute auch nicht so wahnsinnig eitel und schrieben nicht so viel über sich selbst. Sie wollten gesellschaftlich etwas verändern und sie waren auch politischer.
Früher waren auch die Partys in Berlin viel besser, die Drogen geiler und alle haben immer getanzt – so voll freu. Es gab ja auch kein Berghain und die Mauer stand noch.
Früher gingen die Menschen auch mehr raus. Ins Kino, ins Theater, in die Cafés. Die waren auch nicht so überfüllt, weil es auch noch nicht so viel Tourismus gab, der die ganze Stadt kaputtmacht.
Früher war auch Neukölln so voll „real“, ohne die ganzen katzenpullovertragenden, alles ironisierenden Hipster, die den ganzen Kiez totgentrifizieren. Und früher war auch Mitte noch angesagt. Prenzlauer Berg aber nicht.
Früher gab es auch nur einen Christopher-Street-Day in Berlin, weil sich eben alle einig waren. Nicht so wie heute mit diesen ganzen Splittergruppierungen.
Früher haben die Männer auch keinen Bart getragen, sondern waren glatt rasiert und hatten einen adretten Seitenscheitel – und wurden so auch nicht für Terroristen gehalten.
Früher gab es auch nicht so viele Biosupermärkte. Die Menschen sind einfach zum Bauern gefahren.
Früher hatten die Leute auch nicht so viele Rennräder. Rennradfahren ist Sport, für alles andere reicht ein Hollandrad.
Früher schrieben die Menschen sich auch ständig Liebesbriefe, mit Tintenfässchen, Wachssiegel und so. Heute schicken alle ständig Schwanz- oder Muschibilder als große Liebesbekundungen hin und her.
Früher war es einfach, rechte Politik von linker zu unterscheiden. Überhaupt waren die Kategorien viel simpler, es gab ja auch viel weniger und die Rollen waren klar: Mann, Frau.
Früher hat das Jobcenter auch nicht den ganzen Berliner Künstlerschmarotzern Geld gezahlt.
Früher trafen sich die Menschen auch viel öfter miteinander und hörten sich richtig aufmerksam zu – ohne auf ihre Smartphones zu starren.
Früher musste niemand so viel arbeiten und hatte mehr Zeit, dahinzuleben, und dadurch ist dann auch was richtiges Kreatives und Wichtiges entstanden.
Früher gab es auch keinen Rassismus, weil ja alle deutsche Kartoffeln waren.
Früher wusste niemand, was Netflix ist und warum das vonnöten ist.
Früher hörten auch alle richtige Musik und achteten ganz genau auf Arrangements.
Früher. Früher.
Früher.
Früher war alles besser. Wann genau war denn dieses Früher?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland