Kolumne Schlagloch: Was lesen Welt-Ungewisse?
Nach dem Mauerfall verlor der Ex-Chefredakteur der "Jungen Welt" sein vor Wissen starrendes Ich. Welche Erleichterung!
A m Mittwoch wäre die DDR 60 Jahre alt geworden, also: Rentnerin. Frauen bekamen in der DDR mit 60 Rente. Vor zwanzig Jahren wurde die DDR 40.
Man weiß, ohne dieses Jubiläum - DDR-sprachlich: Republikgeburtstag - hätte es den Herbst 1989 so nicht gegeben. Oder doch, natürlich hätte es ihn gegeben, aber anders. Vor allem später.
Erich Honecker hatte Michail Gorbatschow zu Gast, das gehörte sich so, schließlich war die DDR ein Satellit der Sowjetunion. Und doch hätte Honecker diesmal noch die entlegenste Tante lieber eingeladen als den großen Bruder. Denn dieser hatte vier Jahre zuvor begonnen, eigentümliche Fortbewegungsgesetze für Satelliten auszurufen: Macht doch, was ihr wollt! Gerufen hat er das natürlich nicht, aber verstanden hat es auch so jeder: Glasnost und Perestrojka, was sollte das anderes bedeuten, als dass jeder unter den Bedingungen radikaler Offenheit (Glasnost) einen Umbau (Perestrojka) des Sozialismus versuchen durfte? Der alte militante Spruch "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!" war plötzlich in aller Munde.
ist freie Autorin und lebt in Berlin. Gemeinsam mit Gunnar Decker veröffentlichte sie unlängst "Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben. Eine Deutschstunde" bei Dietz Berlin.
Vielleicht kam mir der plumpe Antikommunismus der CDU nach 1989 auch deshalb wie geistige Wiedereinmauerung vor - intellektuell kränkend war er ohnehin -, weil er so tat, als hätte es diese geistige Selbstbefreiung des Sozialismus nie gegeben. Das Volk würde also wie gewöhnlich jubelnd an der Partei- und Staatsführung vorbeimarschieren? Aber natürlich. Es rief "Gorbi! Gorbi!". Der stand neben Honecker und winkte zurück. Honecker sah noch wächsener aus als sonst. Er hatte zuletzt in seiner Verzweiflung begonnen, sowjetische Zeitschriften verbieten zu lassen.
Gleich beginnt die Buchmesse. Viele Bücher dieses Herbstes rahmen noch einmal jene Tage und seine Mitwirkenden. Es gibt schlichte Rahmen, Goldrahmen, Schmährahmen, Trauerrahmen, Triumphrahmen. Das Buch des früheren Chefredakteurs der Jungen Welt aber fällt aus allen. Genau wie sein Verfasser, Hans-Dieter Schütt. Und sein Titel: "Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR".
Die Junge Welt war nicht irgendeine Zeitung in der DDR, sie hatte eine Auflage von 1,5 Millionen, was sich nicht zuletzt aus der Hoffnung erklärte, dass die Sprache einer Zeitung für junge Menschen doch nicht ganz tot sein könne. War sie auch nicht, Schütt bezeichnet ihre Besonderheit rückblickend als "flüssige Vorwärtsprosa". Journalismus im Sozialismus: "Die Leute sollten nicht erfahren, dass sie nichts erfahren sollten." Schütt war demnach der mächtigste Zeitungsmann der DDR, ein großer Agitator vor dem Herrn. Anfang November 1989 wurde er von seiner eigenen Redaktion abgesetzt, schon weil man mit einem Chefredakteur von gestern nicht das Morgen betreten sollte.
Und was machte nun dieser unversehens aus Zeit, Amt, Arbeit = Leben Gefallene? Er befand sich gewissermaßen im Mittelpunkt des Nichts, empfand diesen Aufenthaltsort als überraschend angenehm und tat das Nächstliegende: Er las Peter Handke. "Ich hatte plötzlich viel Zeit, ich spürte schlagartig, was Muße ist? Ich fiel von mir selber ab, da lag nun alles Bisherige, die Frucht der jahrelangen Mühen - mir plötzlich selber ungenießbar." Ein Statiker inmitten der nun mehr rasenden Zeit. "Glücklich beschädigt" ist die vielleicht merkwürdigste Biografie im Kontext des Herbstes 89, in jedem Fall die stillste. "Der Handke-Leser ist jemand, dem das vor Wissen starrende Ich abhandenkam." Was für eine Erleichterung!
Es gibt nicht mehr viele journalistische Zufluchtsorte für Weltungewisse. Einer heißt Neues Deutschland. Dort stehen, seit Jahren schon, die bemerkenswertesten Theaterkritiken weit und breit. Dort hat sich etwas festgesetzt, was aus anderen Zeitungen wegen Uncoolness immer mehr verschwindet: Geist. Geist im Sinne dieses Weltverhältnis älteren Typs, das die 68er einst als reaktionär abschafften. Sie hatten wohl recht, Geist ist wahrscheinlich immer ein wenig reaktionär, zumindest beharrend, und darum hat das Neue Deutschland heute ein, ja, sprechen wir es ruhig aus, irgendwie stockkonservatives Feuilleton. Aber weltweitend-konservativ.
Wahrscheinlich hofft die Redaktion noch immer, dass die alten Leser das nicht merken, neue können es fast nicht merken, denn die gibt es kaum. Eine Zeitung für Stigmatisierte und solche, die es werden wollen! Wahrscheinlich fand dieser Handke-im-Herbst-Leser, das ND sei genau die richtige Strafe für ihn.
Der frühere Chefredakteur der Jungen Welt ist ein Störfall. Er irritiert nicht zuletzt die eigene, nicht ganz unzuverlässige Welterfahrung: Kommunisten waren, vorsichtig gesagt, nicht eben die Hellsten. Oder sie hatten Eltern, die auch schon Kommunisten waren. Beides traf auf ihn nicht zu, im Gegenteil. Und was für eine hochauflösende Kraft der Sprache, die in ein paar Sätzen ganze Welten erschafft. Wie wurde so einer zum obersten Diener der Macht? Wo ist die Erklärung?
Irgendwann merkt man: Er will sie gar nicht geben. Vielleicht weil jede Erklärung schon zu nah an der Rechtfertigung ist. Fast alle Herbst-Literaten möchten vor allem eins: recht behalten. Dieser Autor möchte unrecht behalten. Aber Hinweise gibt es. Da ist die gescheiterte Republikflucht eines Mitschülers. Schütt verlor als vermeintlicher Mitwisser sein schon bestätigtes Volontariat bei einer Tageszeitung. Der stellvertretende Chefredakteur: "Wir werden dafür sorgen, dass Sie nie Journalismus betreiben, denn was Sie getan haben, gleicht dem Schuss eines Offiziers in die eigenen Reihen." Also Gummiwerker. Gummi dehnt sich, aber die Welt eines metaphysisch berührbaren Gummiwerkers schrumpft. Was macht man da? Dem fatalen Beinahechefredakteur das Gegenteil beweisen? Es folgte der Sturz in eine ebenso fatale Festkörpermetaphysik, die zuerst alle Berührbarkeiten tilgt? Die besten DDR-Bücher handeln von viel mehr als der DDR.
Bücher, vor der Buchmesse darf man das ruhig sagen, sind für Menschen mit einem nicht ganz simplen Selbstverhältnis als Weltverhältnis. In den lesenswerten geht es fast nie um Recht und Unrecht, sondern um das, was Menschen mit Menschen teilen können: Erfahrungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen