Kolumne Pressschlag: Der lange Weg aus der Stasi-Falle
Der Fall der früheren Leichtathletin Heike Drechsler zeigt, dass die Zeit reif ist für einen neuen Blick auf DDR-Biografien.
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W ikipedia ist schnell. Bis Dienstag stand dort, dass die frühere Sprinterin und Weitspringerin Heike Drechsler, die jede Menge Olympia- und WM-Medaillen für die DDR und die vereinigte Bundesrepublik gewonnen hat, als „IM Jump“ Zuträgerin der Stasi war. Seit Mittwoch ist der Eintrag geändert.
Nach einem Gutachten des Politologen Helmut Müller-Enbergs, das sie selbst in Auftrag gegeben hat, gilt Drechsler als entlastet. Lange hat das gedauert. Der Vorwurf, sie sei Stasi-Spitzel gewesen, ist seit 1993 in der Welt. Damals hatte die Stasi-Unterlagen-Behörde Akten an die Presse weitergeleitet. Etliche Medien stürzten sich begierig darauf, die Geschichte von der Athletin im Dienst der Stasi war in der Welt.
Stasi, das war lange ein Signalwort, das den Jagdinstinkt vieler gesellschaftlicher Akteure geweckt hat. Fiel es, waren die moralische Urteile über Biografien schnell formuliert. Noch immer wird die Geschichte der DDR von viel zu vielen allein allein anhand der SED und der Stasi erzählt. 29 Jahre nach dem Mauerfall könnte sich das langsam ändern. Die Reaktionen auf den Film „Gundermann“, die im Leben des Kommunisten, Idealisten, Baggerführers, Vaters und Musikers endlich mehr gesehen haben als dessen Täterakte bei der Stasi, lässt darauf hoffen, dass Biografien nicht allein deshalb moralisch entwertet werden, weil das unselige Ministerium für Staatssicherheit darin eine Rolle gespielt hat.
Das schnelle Urteil, das seinerzeit über Heike Drechsler gefällt wurde, ist für die Ex-Sportlerin umso bitterer, weil sie für die Stasi nie mehr war eine eine so genannte Vorfeld-IM, eine, deren Zuarbeit sich man vielleicht später einmal hätte sichern wollen. Eine Vorfeld-IM ist eben keine IM. Diejenigen, bei denen die Abkürzung IM reicht, um die Alarmglocken zum Ertönen zu bringen, haben viel zu lange die Macht gehabt, über Biografien zu urteilen. Wenn diese Zeit zu Ende ist, dann könnte das zu einer neuen Sicht auf die DDR-Geschichte führen.
Der „Fall Drechsler“ und die Vorwürfe außerhalb des Sports
Die sollte nicht auf den Sport begrenzt bleiben, wo Entlastungsreflexe vielleicht schneller greifen, weil man sich die Medaillen der Wendesportler nicht mies machen lassen möchte. Auch eine wie Anetta Kahane, deren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus als Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung von rechts oft mit dem Verweis auf ihre Stasitätigkeit für nichtig erklärt wird, hätte es verdient, wenn ihr Leben in der DDR nicht auf das Kürzel IM reduziert würde.
Das passiert immer noch allzu oft, dabei hat sie sich immer wieder selbst zu ihrer Stasitätigkeit geäußert, hat sich damit beschäftigt, wem sie geschadet haben könnte, und sich dazu geäußert, warum sie ihre Zuarbeit für das MfS 1982 beendet hat.
Leben in ihrer Gesamtheit zu betrachten könnte auch beim Thema Doping den Blick auf die Geschichte des DDR-Sports verändern. Auch hier wird oft allzu schnell auf den Staatsplan 14.25 verwiesen, mit dem das von der DDR-Führung orchestrierte System des flächendeckenden Dopings seinen Anfang genommen hat. Ob es richtig ist, ein Sportlerleben, das viele Trainingsstunden und den Verzicht auf so manche Annehmlichkeit mit sich bringt, auf die Einnahme von blauen Pillen zu reduzieren, auch diese Frage kann mal ruhig mal stellen.
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