Kolumne Pressschlag: Die vernünftigen Verschweiger
Der deutsche Boxsport-Verband blamiert sich im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Vizeeuropameisterin Scheurich will nicht mehr Aktivensprecherin sein.
S exualisierte Gewalt? Pssst! Nicht so laut! Wir haben doch bald Europameisterschaften! Und außerdem: Darüber redet man bitte ausschließlich intern, muss ja nicht jeder mitbekommen! So kann man die Reaktion des deutschen Boxsport-Verbands (DBV) dieser Tage auf die Kritik der ehemaligen Vizeeuropameisterin Sarah Scheurich zusammenfassen. Man würde derartige Reaktionsmuster im deutschen Sport gern als mittelalterlich geißeln, leider sind sie aber immer noch modern und nicht ungewöhnlich.
Scheurich hatte beklagt, dass trotz aller Unternehmungen der Sportlerinnen in den vergangenen Monaten, die in den sozialen Netzwerken in die Initiative #CoachDontTouchMe mündeten, der Verband nicht das Mindeste unternommen hatte. Offenbar wurde nicht einmal das Gespräch mit den Aktivistinnen gesucht. Scheurich ist deshalb diese Woche von ihrem Posten als Athletensprecherin zurückgetreten. Sie erklärte, sie sei nicht bereit, ihren Namen für diese „Alibipolitik“ herzugeben.
Kurioserweise beklagte nun Jürgen Kyas, der Präsident des DBV, dass Scheurich nicht das Gespräch mit dem Verband gesucht habe. Er fügte hinzu: „Ich hatte gedacht, dass man vor einer Europameisterschaft nicht so ein Fass aufmacht, sondern sich vernünftig über etwaige Mängel unterhält.“ Nachdem einem Hamburger Trainer Missbrauch vorgeworfen worden war, hatten zu Jahresbeginn Sarah Scheurich und mehrere Boxerinnen die Kampagne #CoachDontTouchMe ins Leben gerufen.
Der große Skandal im US-Turnen um den Teamarzt Larry Nassar hat in den vergangenen Monaten sehr eindrucksvoll gezeigt, was passiert, wenn sich Opfer sexualisierter Gewalt nicht auf verbandsinterne Reinigungsprozesse verlassen, sondern an die Öffentlichkeit gehen. Immer mehr Turnerinnen trauten sich daraufhin, von ihren traumatischen Erlebnissen mit Nassar zu berichten. Am Ende hatten mehr als 140 Turnerinnen Klage erhoben.
Angst vor der Lawine
Vor diesem Hintergrund kann man den Versuch des DBV, das Thema unter der Decke zu halten, als eine angstbesetzte Abwehrreaktion interpretieren. Es soll möglichst keine Lawine losgetreten werden, die grundsätzliche Strukturen des Sports infrage stellen könnte. Nicht nur beim Deutschen Boxsport-Verband sorgt man sich um das eigene Image deutlich mehr als um das Wohl etwaiger Opfer. Im deutschen Sport gibt es eine Scheu, Anlaufstellen für Beschwerden über sexualisierte Gewalt zu schaffen. Lieber werden Broschüren gedruckt und wird Präventionsarbeit vorangetrieben. Das ist zwar mehr, als in der Vergangenheit gegen sexualisierte Gewalt unternommen wurde – nämlich gar nichts –, reicht aber längst nicht. Mit der Abwehr einer Aufarbeitung der Vergangenheit schaden die Sportverbände auch künftigen Opfern und schützen die Täter.
Untersuchungen der Sporthochschule Köln haben wissenschaftlich untermauert, wie brisant das Problem sexualisierter Gewalt im Sport ist. 37 Prozent der befragten Sportler gaben an, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Die Ängste, das Thema anzusprechen, sind dennoch weiterhin groß. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, bemüht sich schon seit geraumer Zeit vergeblich darum, deutsche Fußballnationalspieler als Botschafter einer Sensibilisierung für dieses Problem zu gewinnen.
Boxpräsident Kyas wies darauf hin, dass sein Verband ganz nach den Richtlinien des Deutschen Olympischen Sportbunds handle. Das mag durchaus stimmen. Und im Grunde hat Kyas damit ein Kernproblem angesprochen. Bislang ist noch kein Verband dadurch aufgefallen, dass er sich aktiv um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bemüht hätte. Die Kultur des Wegschauens ist im deutschen Sport weit verbreitet.
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