Kolumne Nullen und Einsen: Ich spiele nur aus Genussgründen!
Wer noch immer Pokémon Go spielt, ist eventuell ein klitzekleinwenig süchtig. Aber natürlich niemals so schlimm wie die Anderen.
Ich kann ein Pikachu mit der Nase fangen. Dafür muss ich mein Smartphone mit einem zehntelsekundenschnellen Ruck an der Nasenspitze entlangziehen. Das ist, wenn man einhändig Pokémon Go spielt, praktischer, als es mit dem Daumen zu versuchen. Und einhändig ist nötig, damit man es auch beim Radfahren spielen kann.
Ja, ich spiele Pokémon Go. Also vor allem: Ich spiele noch immer Pokémon Go – über drei Monate nach Veröffentlichung. Von den 142 Pokémon, die man in Deutschland sammeln kann, habe ich inzwischen 130 beisammen, für den Rest werde ich noch lange brauchen. Aber aufhören? Ich bin mittendrin in dem, was in der Psychologie „Sunk Cost Fallacy“ genannt wird: „Wenn wir schon so viel Geld und/oder Zeit in etwas gesteckt haben, buttern wir noch mehr hinein!“
Das war nicht ganz so geplant.
Meine Vorstellung vorher war etwa so: Wenn ich unterwegs bin, fange ich hier oder dort mal ein Pokémon, irgendwann habe ich alle beisammen, ganz nebenbei. In Wirklichkeit halte ich dauernd an oder fahre Umwege, denn die meisten Pokémon-Arten stehen nicht einfach so an der Straße herum, sondern tauchen nur an bestimmten Stellen auf und dort auch nicht zu jeder Zeit und alles ändert sich immer mal wieder.
Diese Verknappung sorgt für ein extremes Suchtpotenzial, das bei mir hoffnungslos gut wirkt, inklusive des damit einhergehenden Kontrollverlusts. Am Anfang bin ich noch verschämt herumgelaufen und habe auf mein Smartphone in der Tasche gelinst. Leute, die mit offenen Visier pokémonisierten und sich gar noch darüber unterhielten, habe ich verächtlich angeschaut. „Ich spiele nur aus Genussgründen. Ich habe mich im Griff. Wie die werde ich niemals!“ So dachte ich.
Denn es gibt ja immer noch ein weiteres Niemals: Niemals würde ich auf ein externes Akku-Pack angewiesen sein und albern so ein Kabel vom Handy in den Rucksack hängen haben. Niemals würde ich aus meiner Hinterhofwohnung, 3. Stock, auf die Straße gehen, nur weil da irgendwo ein Abra herumsitzt – und natürlich niemals dabei den Backofen mit den Tiefkühlbaguettes anlassen. Niemals würde ich durch eine fremde Stadt rennen, nur um endlich ein Nokchan zu fangen. Niemals würde ich nachts in einem unbeleuchteten hügeligen Park herumfahren, nur weil da sehr viele Kleinsteins sind (13 in einer Stunde, um genau zu sein).
Einige Male hatte ich die Hoffnung verloren, jemals alle Pokémon zu fangen – nur um zwei Tage später noch besessener und tiefer in das Spiel einzusteigen. Weil mir eine Onlinekarte mit Pokémon-Echtzeit-Fundorten gezeigt wurde, weil ich in einen Gruppenchat mit Gleichgesinnten geriet oder weil ich eine Facebook-Gruppe fand, wo man sich über seltene Pokémon-Vorkommen in Berlin austauscht. Nebenbei habe ich mir unnützes, aber natürlich essentielles Wissen zusammengelesen. „Kinderwissenschaft“ nannte das einer aus dem Chat.
Immerhin macht mir das alles auch Spaß. Der Kick, wenn ein seltenes Tier entdeckt und gefangen ist, ist immer noch vorhanden. Ich erfreue mich an den liebevoll animierten Pokémon und es gefällt mir, durch das Spiel obskure neue Mini-Parks in Berlin zu entdecken.
Bloß wird es nun kalt draußen und es gibt immer weniger Pokémon, die ich noch nicht habe. Vielleicht höre ich also bald doch mal auf. Denn eines ist mal klar: Diese Handschuhe mit den Spezialfingerkuppen, mit denen man auch ein Smartphone bedienen kann, die kaufe ich mir nicht. Niemals! Ich hab mich doch im Griff.
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