Kolumne Nachbarn: Wie konnte er noch am Leben sein?

Im stillen Wald taucht plötzlich diese bekannte Stimme auf. Ein Traum? Kein Traum? Von der Gefahr zurückzublicken.

Mond scheint durch dunkles Geäst

Unterwegs im dunklen Wald Foto: John Silliman/Unsplash

Sie ging allein durch den Wald. Wolfsgeheul, dann Stille! Sie hatte keine Angst, sondern betrachtete einfach die Finsternis. Plötzlich flog eine Eule aus einem Baumwipfel. Eine vertraute Stimme drang aus dem Laub. Wenige Meter weiter stieg der Weg etwas an und es erschien ein Grabmal. Sie ging darauf zu, las den Namen, das Todesdatum. Er hatte keine Möglichkeit gehabt, mich kennenzulernen, und ohne Bilder und Erzählungen hätte auch ich keine Möglichkeit gehabt, etwas über ihn zu erfahren.

Sie spürte den Drang fortzugehen, doch bevor sie umkehrte, hörte sie eine Stimme: Ich bin hier, mach mir auf. Sie blickte verzweifelt um sich, ging noch ein paar Schritte auf das Grab zu, als die Stimme erneut rief: Mach mir bitte auf, geliebte Tochter. Ich bin hier und ich will raus. Zitternd und mit bloßen Händen begann sie, das Laub und die Erde wegzuräumen. Sie spürte, wie ihre Finger bluteten und ihre Kleider voller Erde und Tränen waren. Sie ertastete einen Holzsarg, der sich wie frisch gezimmert anfühlte. Sie hielt einen Augenblick inne und dachte: Es kann doch nicht sein, dass er noch am Leben ist. Laut sagte sie sich: Das ist doch Unsinn. Du wirst nichts als verweste Überreste vorfinden. Du musst das Loch wieder zuschütten und fortgehen.

Da flehte die Stimme sie an: Bitte, mach mir auf, dies ist kein Traum. Die Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er wirklich noch lebte. Sie hob den Sargdeckel, legte ihn zur Seite und rannte fort, ohne einen Blick in den Sarg zu wagen. Sie versteckte sich hinter einem Baum und sah, wie er sich erhob, den Körper in weiße Tücher gehüllt; sie konnte sein Gesicht nicht sehen, bildete sich aber ein, dass es von Fäulnis bedeckt war.

Er stieg aus dem Sarg und lief zum Haus der Familie. Sie folgte ihm, blieb vor der Tür stehen, und blickte ins Wohnzimmer. Dort saß er bei der Familie und berichtete ihnen, wie es möglich gewesen war, all diese Jahre am Leben zu bleiben. Er erzählte: Wir standen jeden Morgen auf und marschierten zu einer grünen Wiese. Dort gab es reichlich zu essen, und anfangs aß ich viel, bis ich nach wenigen Tagen feststellte, dass die, die viel aßen, viel Schimmel im Gesicht ansetzten. Also beschloss ich, nichts mehr zu essen. Die Zuhörer wollten nicht glauben, dass die Geschichte wahr war. Sie aber fragte sich weiter: Wie konnte er zurückkehren, und wieso? Sie wollte es gar nicht.

Sie lief weg von dem Haus, stieg in ein Taxi, nannte dem Fahrer die Adresse ihrer Wohnung in Berlin und bat ihn, er möge schnell fahren. Sie blickte kein einziges Mal zurück. Als das Taxi davonfuhr, sagte sie sich: Ich muss aufstehen, bevor mein Vater meine Adresse erfährt.

Dieser Albtraum fiel mir heute Morgen wieder ein, als ich mich im Spiegel betrachtete. Die Vergangenheit und die Erinnerungen holten mich ein und ergriffen Besitz von mir. Die Familie, das Land, die Flucht aus Damaskus und schließlich der Abschied von dem Freund, der mir sagte: Die Zukunft liegt vor dir, schau bloß nie zurück.

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

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