Kolumne Nach Geburt: Juhuu, ich habe mich schwer verletzt!
Meine Tochter fand ihren Fahrradunfall total lustig. Nur wir Eltern haben wohl die Gelassenheit verloren und sind gerädert vom Wochenende im Krankenhaus.
Und dann hab ich mit dem Gesicht gebremst.“ So erklärte Tochter eins der Ärztin ihren Fahrradunfall. Ganz ruhig. Ganz ernst. Ganz vernünftig. Als würde sie einen Vortrag voller Fachtermini halten. Und ich nur so: Hihihi.
Oh Mann, war das Gesicht blutig, verschrammt, verbeult, die Nase dick, die Lippe aufgeschlagen nachdem sie auf dem Tempelhofer Feld von ihrem kleinen Fahrrad gestürzt war. (Bevor die Frage aufkommt: Ja, sie trug einen Helm. Aber dessen Schutz scheint da an seine Grenzen zu kommen, wo man mit dem Gesicht über den Asphalt schlittert). Also das volle Programm: Krankenwagen, Krankenhaus, das ganze Wochenende.
Und während meine Freundin da blieb, Tochter zwei bei Verwandten untergebracht war, ich zu Hause Sachen packte und in die Klinik brachte, wir ein bisschen geschockt, ein bisschen genervt, angespannt und gestresst waren, fand Tochter eins das Ganze: spitze.
Eine Scheibe Graubrot ohne Butter zum Abendbrot? Topp. Quietschendes Metallgitterbett, das eher für Ein- als für Vierjährige gedacht ist? Topp. Automat, aus dem man sich jederzeit Wasser – mit oder ohne Kohlensäure – zapfen kann? Topp. Besuch von Papa und Schwester? Topp. Schon mal ausmalen, wie man das Ganze den Erzieherinnen und den Kindern im Kinderladen erzählt? Topp. Und so weiter.
Die Gelassenheit verloren
Und wir Eltern? Wir haben wohl irgendwo zwischen Erwachsenwerdung, Berufsgedöns, Kinder haben und erziehen unsere Gelassenheit verloren. Wir warten, ständig angespannt, dass mal eine Schwester kommt, eine Ärztin, ein Chirurg, der sich ihre dicke, blaue, mit komischen Knubbeln versehene Nase anguckt. Immer nervös, immer auf glühenden Kohlen. „Sonntags geht hier alles etwas ruhiger zu“, sagt die Schwester. Ich antworte: „Ja, klar, danke.“ Und denke: „Scheiße. Ich will hier endlich raus.“ Wir haben genug hier geschlafen, genug vom Mehrbettzimmer, genug vom Graubrot.
Tochter eins geht es völlig anders: Völlig angstfrei freut sie sich auf jedes Messen von Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung.
Es würde mich nicht wundern, wenn sie dieses Wochenende irgendwann mal in ihrer Autobiografie (Titel: „Wollt ihr etwa, dass ich mich wieder an Gemüse gewöhne?!?“, Originalzitat) als das schönste Wochenende ihrer Kindheit beschreibt. Und Tochter zwei wird ihr beipflichten: Die hat schließlich am Unfalltag von Tante, Onkel und drei Cousinen das All-inclusive-Wohfühl-Paket inklusive Schoko-Müsli zum Abendbrot bekommen.
Nur wir Eltern sind am Montag gerädert von diesem Wochenende. Und mich beschleicht das Gefühl, dass das nicht nur an Graubrot, fremden Menschen im Zimmer und dem deutschen Gesundheitssystem liegt. Ich zumindest habe meine nie vorhandene Lässigkeit und Gelassenheit irgendwo im Alltag verlegt.
Tochter eins ist am Montag wieder aufs Rad gestiegen und losgefahren. Fand sie: topp.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen