Kolumne „Nach Geburt“: Schlimmer war‘s nicht
Mein Vater hatte Geschichten von nach’m Krieg. Und ich? Ich erfinde für meine Tochter eine Vergangenheit aus Blut, Schweiß und Dreck.
W ir hatten damals ja nichts. Untertage mussten meine Geschwister und ich arbeiten. Weil wir besser durch die engen Stollen passten und mit unseren flinken Fingern schneller die kleinen Gesteinsbrocken greifen konnten. Dick wurden wir ja nicht, gab ja nichts. 20 Pfennig bekamen wir pro Tag. Drei Groschen kostete allein der Bus hin und zurück.
Tochter eins guckt mich mitleidig an. „Suppe“, sagt sie. Ja, die hat’s gut. Die hat alles. Die bekommt alles. Jetzt halt Kartoffelsuppe. Hatten wir damals auch nicht. Konnten wir uns ja nicht leisten. Das Leben war hart in den 80ern und 90ern an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste.
Meine Tochter nimmt den Teller in eine Hand. Ich rede weiter. Ich erzähle ihr gern Geschichten von früher. Ich lasse dann den bescheuertsten Quatsch, den mein Gehirn hergibt, einfach aus mir herausfließen. Was soll ich ihr sonst auch erzählen? Gab ja nichts Spannendes. Totales Durchschnittsmilieu waren wir. In einer Durchschnittsstraße. Mit Durchschnittsnachbarn in einer durchschnittlichen Kleinstadt, in der sogar die Arbeitslosenquote totaler Durchschnitt war. In Monty Pythons Film „Das Leben des Brian“ ruft der Messias der lauschenden und staunenden Menge zu: „Ihr seid doch alle Individuen und Ihr seid doch alle verschieden!“ Einer ruft zurück: „Ich nicht.“ Das könnte ich sein.
Mein Vater hatte zumindest noch Geschichten ausm Krieg. Ach, falsch. Geschichten von nach’m Krieg. Aber immerhin. Von Waschtagen, an denen einer nach dem anderen in den Bottich steigen musste. Eltern zuerst! Und von Zeiten, in denen Kaffee noch handgefiltert wurde – und zwar nicht, weil es Lifestyle war, sondern weil keiner eine Kaffeemaschine hatte.
Der Traum vom Profifußball
Und was habe ich zu berichten? Ich lief bei uns zu Hause mit gefälschtem AC-Parma-Trikot über den Rasen und habe von einer Fußballprofikarriere geträumt, die eigentlich schon vorbei war, als mein Trainer in der F-Jugend meiner Mutter zugeraunt hatte: „Man sieht, dass der Junge vom Ballett kommt.“
Soll ich das meiner Tochter erzählen? Sie hält den Teller noch immer in der Hand. Was soll das? Egal. Ich erzähle einfach weiter. Von damals. Blut, Schweiß, Tränen, Dreck. Sie kann ja nicht viel weitererzählen. Und wenn dann doch mal so ein Wort in der Kita fallen sollte, werd ich’s auf die harte Gegend schieben, in der sie aufwächst. Neukölln, Sie wissen schon, total schlimm da. Oder auf die Mutter. Schlechter Einfluss und so. Und überhaupt: Können die paar Lügengeschichten ihr schaden? Ich glaube nicht. Immerhin spart sich ihr Papa so den Therapeuten, den er eigentlich ob seiner fiktiven Vergangenheit bräuchte.
Langsam dreht meine Tochter den Teller um. Großzügig verteilt sie die Plörre mit der anderen Hand auf ihrem kleinen Tischchen. Sie schaut mich erwartungsfroh an. Ich kann in ihren Augen lesen (und in ihrem feisten Lachen): „Hier Papa, haste ’ne neue Geschichte zum Erzählen. Mal was wirklich Bescheuertes“.
Ich rufe meine Frau an: „Du wirst nicht glauben, was mir damals passiert ist! Also, es war vor einer Minute . . .“
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