Kolumne Minority Report: Samstagabend in Sachsen
Wer als Person of Colour dieser Tage in Sachsen weilt, braucht starke Nerven, Verbündete – und im besten Fall ein Zugticket raus aus dem Bundesland.
E s ist Samstagabend, ich bin nicht in Chemnitz, aber in Leipzig und checke auf dem Handy, was los ist in der 90 Kilometer entfernten Stadt. Dort sind knapp 5.000 Demonstrant*innen für und 5.000 gegen – ja was eigentlich? Die Realität einer vielfältigen Gesellschaft? Einen demokratischen Staat, in dem ein Mordfall wie jeder andere Mordfall behandelt wird, egal woher der Täter stammt?
Jedenfalls gibt es zwei Demos in Chemnitz, die eine Seite vereint den rechten Mob mit der „Mitte der Gesellschaft“ (tolle Mischung). Ich bin in Leipzig, weil ich eine Lesung habe. Ich kenne Leipzig ein bisschen, es ist immer nett gewesen da, klar, Leipzig ist anders, aber ich bin vorsichtig. Schließlich sind wir in Sachsen.
Dann ist es kurz nach halb neun, und ich bin zu früh am Hauptbahnhof, wo ich den letzten Zug nach Berlin nehmen will, und da grölt es plötzlich durch die Bahnhofshalle. Ich verstehe die Parole nicht, die sich aus scheinbar zwanzig Passantenmündern vom hintersten Bahnsteig aus ergießt, aber allein dass sie mir nicht vertraut ist, ist kein gutes Zeichen.
Ich sehe bei Twitter, dass die, die mit AfD-Hardliner Björn Höcke marschiert sind und vor ein paar Tagen noch den Hitlergruß zeigten, aber „nicht rechts“ (!!) sind, wie sie seit Tagen klarstellen wollen, in die früheren Züge steigen durften. Sprich: Die Gegenseite steht größtenteils noch in Chemnitz.
Ich bin also an diesem nicht sehr belebten Bahnhof, allein, sehe aus, wie ich aussehe, und lasse den Blick schweifen. Rechts sehe ich eine Glasscheibe, an der „Bundespolizei“ steht, ich muss schmunzeln, weil ich an die Nachricht aus Rosenheim denken muss, wo zwei Polizisten vom Dienst suspendiert wurden, weil sie den Hitlergruß zeigten. Scheint gerade wieder im Kommen zu sein.
Reflexartig suche ich den Ort auf, wo ich mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht die einzige Person sein werde, die von Rassismus betroffen ist: Ich gehe zu McDonald’s. Nicht weil ich glaube, dass Nazis keinen Big Mac essen. Aber ich brauche Leute, mit denen ich mich verbünden kann. Die meine Realität verstehen, ohne dass ich mich erklären muss. Ich gehe davon aus, dass es sich bei mehr als der Hälfte der Angestellten bei McDonald’s um POC handelt, und voilà: Ich werde nicht enttäuscht.
Ich bestelle eine Cola, wir tauschen Blicke aus. Der Serviceangestellte und ich. Die Mutter mit Kinderwagen und ich. Die kaffeetrinkenden Jungs und ich. Jede Person, die hereinkommt, wird von uns gemustert. Kommt sie gerade aus Chemnitz? Auf welcher Seite war sie? Würde sie schweigend wegsehen, wenn jemand von uns durch den Bahnhof gejagt würde?
Endlich wird mein Zug angekündigt. Ein junger Mann fragt, ob er mich zum Gleis bringen soll. „Geht schon“, sage ich und flitze rüber. Am liebsten hätte ich sie alle mitgenommen. Keine Ahnung, wohin.
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