Kolumne Marx 2.0: Der gehasste Oskar
Eine Rückkehr in die Heimat verläuft nicht immer harmonisch. Vor allem wenn es dabei um Politik geht.
N un ist Lafontaine also in sein Saarland heimgekehrt und kümmert sich um das Klein-Klein der Provinz. Das hat er nicht vollmundig und vor der Landtagswahl versprochen, um gewählt zu werden, sondern tut es jetzt, aus freien Stücken. Das ist ungewöhnlich für einen der Top Five der deutschen Politik, und ehrenhaft. Doch die Resonanz war, wir erinnern uns, wie schon so oft, verheerend. Sofort platzten die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen, und zwar deswegen. Das sei ein Husarenritt, so ein plötzlicher (?) Wechsel von Berlin an die Saar, damit habe er alle überrumpelt, mit so einem sei nun jegliches Vertrauen zerstört. Alle Medien stießen in dasselbe Horn, alle Politiker sowieso, von den wenigen eigenen Leuten abgesehen. Die Empörung war riesig. Bild titelte in Zehn-Zentimeter-Lettern "Lafo der Zerstörer", die seriösen Medien wichen davon in nichts ab.
Warum eigentlich? Warum kann der Mann machen, was er will, und wird dafür reflexhaft gegeißelt? Ja, warum wird Lafontaine gehasst? Müntefering erklärt in der Zeit, niemand anderes als Lafontaine habe das SPD-Wahldebakel verursacht. Er habe "aus niederen Motiven" die SPD erst verlassen, dann verraten, dann Mehrheiten gegen sie organisiert.
Ich hatte und habe mit Oskar Lafontaine nie etwas am Hut, habe ihn nie gewählt oder gemocht. Aber allmählich schrillen bei mir wirklich die Alarmglocken. Was läuft hier bloß falsch? Niedere Motive - weil er alle Ämter aufgab? Verrat - weil er Jahre später eine eigene Partei gründete? Er hatte bei seiner Demission, durch Schröder zermürbt und gemobbt (und sehr wohl inhaltlich-politisch verraten), noch nicht einmal Vorwürfe erhoben, geschweige denn das Lager gewechselt oder gar persönliche Vorteile ergattert. Ganz im Gegenteil.
Wohlgemerkt, es handelt sich um den einzigen Politiker des Westens, der die Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren präzise voraussagte, analysierte und klug bekämpfte - bis sein Kanzler ihn damit auflaufen ließ und dem Gelächter der Banker preisgab. Wir sprechen von dem Mann, der als Einziger den Sekundentod der gesamten DDR-Industrie voraussagte, mit all den fürchterlichen Folgen, dem Absterben eines ganzen Landes. Der das womöglich verhindert hätte, und viele der 16 Jahre dröhnend-blöden Kohl, wenn nicht ein Attentat den Kanzlerkandidaten niedergestreckt hätte. Nota bene ist es auch der Bürger Lafontaine gewesen, der den Wahnsinn der Nato-Nachrüstung beim Namen nannte: Wenn schon so viele Atomwaffen im Land waren, dass man damit den Kontinent sechzigmal auslöschen konnte, wurde die Sicherheit nicht durch noch mehr Atombomben erhöht. Helmut Schmidt glaubt bis heute das Gegenteil. Und Lafo steht deswegen als Spaltpilz der damaligen Regierung in den Geschichtsbüchern.
Wird er auch deswegen gehasst? Viel zu lange ist das her. Oder heute, weil er das sinnlose Morden und Bombenwerfen in fremden Ländern obszön nennt? Wir alle hören doch lieber die Lügen von brunnenbohrenden Soldaten und kleinen Mädchen, die in die Schule gehen dürfen. Den braven Polizisten, die wir ausbilden. Den Drogenanbau, den wir bekämpfen. Alles Nonsens, alles nicht wahr, aber es ist unser aller Lebenslüge. Nicht die von Oskar. Da kann man schon einen dicken Hals kriegen, nicht wahr? Warum hat dieser Kerl immer recht? Tut ihn endlich weg! Hängt ihn auf, schlagt ihn ans Kreuz - das war schon immer das Schicksal von solchen Leuten! In einem zivilisierten Land wie unserem geht das natürlich nicht. Also kann man nur hoffen, dass er nun endlich in Vergessenheit gerät. Als kleiner Fraktionsvorsitzender einer kleinen Partei im kleinen Saarland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt