Kolumne Männer: Control
Männer sollen Autisten sein? Dieses Vorurteil lasse ich nicht auf mir sitzen.
S chreib doch mal was drüber, warum Männer einen Hang zur Ultragenauigkeit haben", sagte mir eine Freundin. "Sie machen fast nie sauber, aber wenn doch, dann schäumen sie gleich das Sofa ein. Sie lernen alle Bundesligatore der Saison 1966/67 auswendig und können sie beim Tipp-Kick nachspielen. Das", sagte die Freundin und lächelte sibyllinisch, "könnte man Übertreibung nennen. Oder eine Form von Autismus."
Sie, liebe Leserin und lieber Leser, müssen sich meinen Gesichtsausdruck beim Hören dieser Worte gelangweilt bis genervt vorstellen. So, als müsste ich den "Sat.1 Fun Freitag" gucken. Denn da war es wieder: das Klischee, Männer hörten nicht zu, vertieften sich in Miniatureisenbahnfahrpläne und hätten die Empathiefähigkeit einer Parkuhr. 2005 verkündete der britische Psychologe Simon Baron-Cohen eine knackige These, die das Klischee scheinbar bestätigt. Der Forscher der Universität Cambridge erklärte: "Wir haben festgestellt, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum eine übersteigerte Form des männlichen Profils aufweisen." Spiegel Online titelte: "Forscher halten Autismus für eine extreme Form von Männlichkeit."
"Was hast du gegen Übertreibung und Genauigkeit?", fragte ich die Freundin. "Ohne Übertreibung gibt es keine Witze, keine pointierten Beobachtungen. Keine Fernsehserien wie ,The Simpsons' und kein ,30 Rock'!"
ist Parlamentsredakteur der taz.
"Also damit könnte ich leben."
"Vielleicht", sagte ich, "neigt der feine Herr Cambridge-Forscher selbst zum angeblich typisch männlichen Übertreiben. Das könnte nämlich in der Familie liegen. Sein Cousin ist Sascha Baron-Cohen, bekannt geworden durch ,Ali G' und ,Borat'."
"Hä?"
"Ein K.O.M.I.K.E.R., Herrgott! Na gut", schränkte ich ein, "vielleicht gäbe es ohne Ultragenauigkeit auch keine maschinell verübten Völkermorde. Ohne Pedanterie kein Holocaust."
"Dass du immer gleich übertreiben musst! Hörst du mir überhaupt zu?"
"Zu etwas anderem", sagte ich. "Was, glaubst du, würde passieren, wenn ein Forscher erklärte, Hysterie sei eine extreme Form der Weiblichkeit? Der wäre schnell - und zu Recht - weg vom Fenster. Wenn aber jemand die andere Hälfte der Menschheit pauschal in die Nähe einer gravierenden Entwicklungsstörung rückt, juckt das keinen. Es ist doch Mist, dass es jede Menge Aufmerksamkeit bringt, wenn Wissenschaftler Vorurteile über Männer nutzen, um Gehör für ihre spröden Zwischenergebnisse zu finden. Damit bestärken sie nur Vorurteile, wo ihre Arbeit bei der Differenzierung helfen sollte. Andere Forscher sagen, Autismus lasse sich gar nicht so einfach definieren, die Grenzen seien fließend. Okay, es beruhigt mich, wenn ich die Außenwelt mal komplett ausblenden kann. Aber bin ich deshalb nahe an einer Störung? Bitte antworte nicht darauf, das irritiert mich."
"Moment mal", sagte die Freundin. "Hast du nicht erzählt, du zählst, wie viele Buchstaben Wörter haben? Also ich nenne dir das Wort ,Autismus', und du sagst sofort: ,Sieben.' Das ist doch fast autistisch."
Das ist natürlich Unsinn. Außerdem sind es acht Buchstaben.
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