Kolumne Männer: Camouflage
Vom Jungen reifte ich zum Mann. Meine Schulfreunde wissen, dass diese Behauptung Unsinn ist – denn fast alles, was Menschen tun, ist Maskerade.
E s wird scheußlich werden. Unsere Gespräche werden sich um die ewig gleichen Themen drehen. Wir werden zu viel trinken, einander bizarre Beleidigungen an den Kopf werfen und dieselben, schon lange nicht mehr lustigen Witze reißen. Nach ein paar Tagen wird alles enden in Erschöpfung und Überdruss. Ich freue mich wirklich sehr auf meine beiden Schulfreunde.
Meine Schulzeit liegt, obwohl man mir das nicht ansieht, mehr als eineinhalb Jahrzehnte zurück. Wir zählten zu den letzten bemitleidenswerten Abijahrgängen, die ihre Klausuren ohne Hilfe von Handys schreiben mussten. Und zu den letzten beneidenswerten Jahrgängen, deren Unordnung und frühes Leid nicht durch Handykameras verewigt wurde. Nicht SchülerVZ und Facebook, sondern allein meine Schulfreunde wissen, wie ich als 15-Jähriger in der Dorfdisko "Schaukelpferd" tanzte (in der Szene "Gaul" genannt), und das ist sehr beruhigend.
Die beiden Schulfreunde, die mich besuchen werden, sind von seriösen Herren kaum zu unterscheiden. Männer mit Karrieren, Dienstreisen und Geheimratsecken. Doch darunter sind wir bloß drei Jungs, die irgendwie versuchen, uns zurechtzufinden: im Irrsinn des Lebens im Allgemeinen und dem des Mannseins im Besonderen. Schließlich kennen wir einander, seit wir zehn Jahre alt waren.
Wir erlebten mit, wie jeder von uns sich auf seine Art inszenierte, sich ausprobierte: wie wir uns ein erstes, ungelenkes Selbstverständnis als Mann bastelten. Wie jeder von uns beim Versuch scheiterte, die Hübsche aus der Stufe zu küssen - und danach die weniger Hübsche. Und wir waren dabei, als der eine es für testwürdig erachtete, Konversationen mit gleichaltrigen Mädchen zu beginnen mit dem Lothar-Matthäus-Zitat "Unser Schwarzer hat so'n Langen". Es geht ihm gut.
Wir haben beim Blick auf die Mühen der anderen gelernt: Fast alles, was Menschen tun, ist Maskerade. Anders als unter Männern verbreitet, gibt es zwischen uns weder Konkurrenz noch Imponiergehabe. Deshalb sind Treffen mit meinen Schulfreunden Erholung: eine Ausgrenzung der Kampfzone. Als wir gemeinsam in Urlaub flogen, lautete unser Motto: "Lass deine gute Laune zu Hause." Selten habe ich mich mehr amüsiert.
ist Parlamentsredakteur der taz.
Auch heute noch, so hoffe ich, sind wir uns wortlos im Klaren darüber, dass wir stets nur Rollen spielen. Wenn meine alten auf neuere Freunde treffen, dann möchte ich glauben, dass ihr Blick mir sagen soll: "Aha, du versuchst es also mit dieser ,Seriöser Journalist mit vielen Interessen, der keine Furz- und Fickifickiwitze macht'-Nummer. Na, viel Glück."
Letztlich haben alle Menschen eine Sehnsucht gemeinsam. Sie möchten auf ihre Frage "Weißt du noch, als wir damals …?" zur Antwort bekommen: "Ja, das weiß ich noch." Sie wollen Zeugen ihres Lebens. Die beiden Schulfreunde besuchen mich übrigens anlässlich einer Party. Sie werden dabei auf Leute treffen, die ihnen Fragen stellen könnten wie: "Weißt du noch, was Matthias mit 15 so gemacht hat?" Hoffentlich werden sie dann antworten: "Nein, das weiß ich nicht mehr."
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