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Kolumne MännerDie Einsamkeit des Langstreckenläufers

Matthias Lohre
Kolumne
von Matthias Lohre

Warum behandeln sich viele Männer so schlecht? Weil sie es können.

A ls ich am Montagmorgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem ungeheuer Unbeweglichen verwandelt. Ich lag auf meinem geschundenen Rücken und sah, wenn ich den Kopf ein wenig hob, meine nutzlos gewordenen, schmerzenden Beine. Ich fragte mich, wer so bösartig gewesen war, über Stunden so heftig auf meine Beine zu schlagen, dass sie nur noch schmerzende Gewichte waren. Langsam stieg die Erinnerung in mir auf. Ich hasse Marathonläufe.

Moment, das klingt zu harsch. Ich formuliere es ein wenig um: Ich liebe Marathonläufe. Vielleicht lässt sich mit den Kategorien von Zuneigung und Ablehnung nicht erklären, was Menschen dazu bringt, über Monate öde Trainingsläufe zu absolvieren. Und das nur, um Geld fürs Privileg zahlen zu dürfen, an einem Sonntagmorgen früh aufzustehen und - umringt von mehr als 40.000 anderen Teilnehmern, von denen erstaunlich viele nervöse Blähungen haben - 42,195 Kilometer zu laufen.

Vier von fünf Marathonläufern sind Männer. Warum ist das so? Ich ignoriere den irritierenden Gedanken, dass es was mit den Blähungen zu tun haben könnte, und vermute: Es steckt Ehrgeiz dahinter. Die Einsicht klingt simpel. Aber auch das Offenkundige bleibt uns oft verborgen. Zum Beispiel ist Lady Gaga eine Mischung von Haddaway ("What is love?") und Cher (Cher), und trotzdem feiert das Feuilleton sie. Was ich sagen will: Wir müssen scheinbar Bekanntes hinterfragen. Was genau ist Ehrgeiz, und warum treibt er Männer dazu, sich zu schaden?

Bild: privat

Matthias Lohre ist Parlamentsredakteur der taz.

Ehrgeiz ist das Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung durch Leistung. Als "gesunder" Ehrgeiz gilt Eifer, der anderen nicht schadet, etwa durchs Ausfahren der sprichwörtlichen Ellenbögen. Als "krankhaft" hingegen gilt die Konzentration aufs Siegen um seiner selbst willen, was bis zur Selbstzerstörung reichen kann. Nach dieser Definition ist Marathonlaufen krankhaft. Denn es geht dabei ums zweckfreie Bezwingen seiner selbst, und es schadet der eigenen Gesundheit wie der anderer, etwa durch schweißnasses Heimfahren in der U-Bahn.

Nach dem Lauf telefonierte ich mit einem Freund. Es war sein zweiter Marathon. Der Mann war am Boden zerstört: Er hatte 13 Minuten länger gebraucht als geplant. "Vielleicht ist das alles nichts für mich", sagte er mit einer Stimme, die mich fürchten ließ, mit "alles" könne er weit mehr meinen als das Langstreckenlaufen. Meine Vermutung tröstete ihn nicht, dass vielleicht die permanente Überarbeitung in der ihm gehörenden Firma damit zu tun habe, außerdem die Sorge um zwei kleine Kinder und der Umstand, dass er deshalb nur vier Stunden pro Nacht schläft.

Da wurde mir klar: Männer glauben nicht nur, ihr Wert als Mensch richte sich nach ihrer Leistung. Sie wollen auch diejenigen sein, die sich für scheinbares Versagen am heftigsten schmähen. Alles muss man selber machen.

Apropos Autoaggression: Sollte ich je wieder laufen können, nehme ich zum Joggen neue Kopfhörermusik zum Aufstacheln mit. Sehr hilfreich finde ich alles von Lady Gaga.

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Matthias Lohre
Schriftsteller & Buchautor
Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wurde von der Kritik gefeiert. Anfang 2025 veröffentlichte er seinen zweiten Roman "Teufels Bruder" über Heinrich und Thomas Mann in Italien.
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6 Kommentare

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  • S
    suswe

    weil Männer ebenso absolut unphysiologische Maßstäbe verwirklichen wie Frauen, nur männerspezifisch.

  • LM
    Lecka Mittachessen

    Ja, "warum behandeln sich Männer so schlecht?" Weil sie sich jenseits von kräftezehrenden Wettbewerben wertlos fühlen? Weil sie sich für weiß der Geier was bestrafen müssen?

     

    Ein/e Jede/r flüchtet, kompensiert, verdrängt, entkrampft, betäubt sich auf seine/ihre weise. So manche/r rennt vor sich selbst davon und ruiniert sich unbemerkt dabei. Sind ja noch Endorphine mit im Spiel ...

  • GI
    geschenkt ist schlicht zu billig

    dient wohl der illusion, das leben sei beherrschbar. passt zu unserer leistungsgesellschaft. der stärkere setzt sich durch, ausdauer bringt erfolg, steck dir ein ziel und arbeite darauf hin, egal welche hindernisse sich dir in den weg stellen - es geht immer weiter - wenn du willst! wo ein wille, ist ein weg. sehr amerikanisch. dabei wird vergessen, dass "glück", anders als @oosoo behauptet, nicht "erarbeitet" werden kann. aber auch das ist ja typisch für eine im kern neoliberale lebenseinstellung: stolz triumphiert über demut. und weil alles machbar erscheint, sieht unser planet so aus, wie er jetzt aussieht. ich stimme dem autor i.d.s. zu: der marothonlauf enthält eine selbstzerstörerische komponente, physiologisch wie metaphorisch.

  • P
    Phil

    "Bezwingen seiner selbst" ja, aber das ganze ist m.E. niemals "zweckfrei". Ein zweckfreies Bezwingen seiner selbst kann eigentlich nicht funktionieren (es sei denn, man ist tatsächlich krank im Kopf), dafür ist der Vorgang des Marathons dann doch zu anstregend. Was aber der jeweils persönliche Zweck ist, muss dann wohl jeder für sich entscheiden.

  • L
    Lutze

    Warum bin ich wohl nicht verwundert, warum der Autor alles von Lady Gaga mag..;)

    Lady Gaga...!:O Eine schreckliche Narzistin!

  • O
    oosoo

    Als ebenfalls "Betroffener" (männlicher Marathonläufer) kann ich das Fazit des Autors zum einen unterschreiben, zum anderen wird aber jeder Mann (und jede Frau natürlich auch) darüberhinaus noch seine/ihre ganz persönlichen Gründe dafür haben, sich diesen Strapazen auszusetzen. Ich bin für mich selbst noch auf der Suche nach Antworten für dieses teilweise nicht rational erklärbare Verhalten. Noch vor 3 Tagen, also unmittelbar nach dem absolvierten Berlin-Marathon, habe ich mir geschworen, nie wieder an einem Langstreckenwettkampf teilzunehmen und in aller Ruhe und ohne Trainingsplan im Kopf meine entspannten Bahnen durch den Park zu ziehen. Niemand aus meiner Familie oder aus meinen Freundes- oder Bekanntenkreis erwartet irgendwas von mir. Die meisten haben nicht mal einen Bezug dazu oder wissen gar davon, was ich da mache. Ich gehe mit dieser Information auch nicht hausieren, sprich die externe Anerkennung bedeutet mir wenig bis gar nichts. Die Vorsätze, nicht mehr an einem Wettkampf teilzunehmen, hielten nur wenige Stunden. Am Dienstag dann meldete ich mich verbindlich für den kommenden Halbmarathon an. Und meine Anmeldung für den Berlin-Marathon 2012 habe ich nur deshalb noch nicht eingereicht, weil die Anmeldephase erst in ein paar Wochen beginnt. Aber dann bin ich natürlich wieder dabei.

    Meine bislang beste Antwort auf die Frage "Warum?" ist ein Zitat eines Anfeuer-Transparantes, was ich bisher bei jedem Lauf mindestens einmal irgendwo an der Strecke lesen konnte: "Der Schmerz vergeht, der Stolz bleibt!". Wobei ich es für mich immer so interpretiert habe, dass es der eigene Stolz auf sich selbst ist. Übertragen auf das wahre Leben, sei es beruflich oder privat, bedeutet das für mich: was du dir auch immer vornimmst, wie schwierig oder unwahrscheinlich es auch sein möge, sich einen persönlichen Traum zu erfüllen, wenn du dafür kämpfst und alles gibst, dann kannst du es schaffen - Es ist quasi nichts unmöglich. Du kannst alles erreichen. Ein Marathonlauf ist für mich daher der fühlbare, innerhalb von rund 4 Std. erbrachte Beweis dafür, dass das Leben genau so funktionieren kann. Setz dir ein Ziel und arbeite darauf hin. Glück und Erfolg fällt einem nicht in den Schoß, man muss dafür arbeiten und manchmal tut das eben auch weh. Von daher kann ich den oben zitierten Freund sehr gut verstehen, der seine wenigen Minuten, die er länger als geplant brauchte, evtl. vor einem größeren Hintergrund betrachtet hat. Was mich jedenfalls bisher beflügelt hat, wenn ab Km 35 (oder früher oder später) der große Einbruch und der unglaubliche Kampf mit mir selbst begann, war die innere Stimme: "Wenn du das hier schaffst, dann schaffst du alles andere auch". Von daher hat ein Marathon etwas unglaublich positives und konstruktives. Ein echter Mutmacher fürs Leben. Und hierin weiche ich wahrscheinlich von der Einstellung des Autors ab, dass wir es hier mit etwas selbstzerstörerischem zu tun hätten. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Aus einem Zieleinlauf eines Marathons kann man enorme Kraft schöpfen, auch wenn man sich am nächsten Tag nur schwer bewegen kann oder gar seine gesteckte Zeit nicht erreicht hat. Man hat es ja zumindest versucht und alles gegeben. Und was man ja auch nicht unterschätzen darf: überhaupt losgerannt und angekommen zu sein, ist doch wohl auch schon mal was. "Der Schmerz vergeht, der Stolz bleibt!"