Kolumne Macht: Dafür hat man Prinzessinnen
Merkels Steichelaffäre verweist vor allem auf die Fragwürdigkeit politischer Inszenierungen. „Bürgerdialoge“ sind überflüssig.
D as ist der Stoff, aus dem Märchen sind: Verzweifeltes Kind trifft auf gütige Herrscherin. Die nimmt sich der Kleinen barmherzig an, hilft ihr aus der Not, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. In der Realität verläuft eine solche Szene etwas anders, und deshalb hat Angela Merkel jetzt ein Problem.
Viral verbreitete sich im Netz das Video einer Begegnung der Bundeskanzlerin mit dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem, das von ihrer Angst erzählte, abgeschoben zu werden.
Angela Merkel gab Floskeln und Gemeinplätze von sich, die der Situation nicht gerecht wurden – das Mädchen sei ja wirklich sehr sympathisch, aber es könnten eben nicht alle aus Afrika hierher kommen – und war dann sichtlich erschrocken, als das Kind zu weinen begann. Sie trat auf das Mädchen zu, legte ihm die Hand auf die Schulter: „Och, komm. Du hast das doch prima gemacht.“
Ein ebenso dämlicher wie aufschlussreicher Satz. Die spontane Reaktion verrät, dass die Kanzlerin bei der Veranstaltung nur und ausschließlich an eine möglichst gute Selbstdarstellung dachte – und offenbar überzeugt war, allen anderen müsse es genauso gehen. Reem ging es aber gar nicht um die Performance. Sondern um ihr künftiges Leben.
Selbstdarstellung
Die vorhersehbare Reaktion im Netz: Ein Shitstorm, der so gewaltig war, dass er es in fast alle Medien schaffte. „Hilflos, herzlos, sprachlos“ fasste die Bild-Zeitung die Kommentare zusammen, die auf Twitter standen. Wie schön, dass jetzt sogar dieses Blatt ehrliches Mitgefühl mit der Situation von Flüchtlingen in Deutschland zeigt. Warum werde ich bloß den Gedanken nicht los, dass der Tränenausbruch eines 50-jährigen Syrers nicht dieselbe Wirkung hervorgerufen hätte?
Vor 70 Jahren berieten sich auf der Potsdamer Konferenz Sowjets, Amerikaner und Briten über die Zukunft Deutschlands. Heute leben viele ihrer Enkel in Berlin. Drei von ihnen haben wir getroffen. Das Gespräch lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Juli 2015. Außerdem: Lange Beine, pralles Dekolleté? Alles von gestern. Die neuen weiblichen Schönheitsideale sind die Oberschenkellücke und die Bikini-Bridge. Über den Wahn von Selfie-Wettbewerben im Internet. Und: In Kabul haben sich Witwen einen eigenen Stadtteil gebaut. In der Gemeinschaft gewinnen sie Respekt zurück. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Herzlos sind Gesetze, die Flüchtlinge zwingen, jahrelang in einer Situation der Angst und Unsicherheit zu leben. Herzlos war in dieser Situation nicht Frau Merkel. Das klassische Angebot, das Mädchen möge doch einen Brief schreiben, und sie werde sich „kümmern“, hätte dem Kind vermutlich auch nicht geholfen. Wäre allerdings beim Publikum besser angekommen.
Das Problem liegt in diesem Fall nicht bei der Reaktion der Kanzlerin, sondern in der Verlogenheit derartiger Veranstaltungen. Wer das Video anschaut, sieht eine erschöpfte und überarbeitete Frau, die sich vermutlich auf dem ganzen Weg zu diesem Termin gefragt hat, warum sie sich das antun muss. Diese Frage wäre berechtigt.
Mit Demokratie oder gar „Bürgerdialog“ – so der vollmundige Titel – hat es nichts zu tun, wenn eine Regierungschefin mitten in einer wahrlich anstrengenden Woche nach Rostock reist, um mit einigen Jugendlichen in der Turnhalle ihrer Schule zu reden. So etwas ist ein reiner Showtermin, für derlei hält man sich in anderen Ländern Prinzessinnen.
Deshalb bringt es ja das ganze Drehbuch durcheinander, wenn da plötzlich ein echter Mensch mit echten Gefühlen sitzt. Zur Politik gehören auch Inszenierungen, das ist unvermeidlich. Aber ein solches Theater wie der vermeintliche „Bürgerdialog“ ist nicht nur überflüssig, sondern eine Beleidigung. Für alle Beteiligten.
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