Kolumne Lidokino: Zerrissene Kohlköpfe

Alle ferngesteuert? Eine Dokumentation gibt erschütternde Einblicke in die Strukturen von Femen. Daneben glänzen im Wettbewerb gleich zwei Filme.

Alle nackt, bis auf die Regisseurin: Kitty Green (3. von rechts) und die Femen-Frauen. Bild: ap

Die jungen Frauen nehmen in der Sala Perla Platz. Sie tragen bunte Blumenkränze im langen Haar, enge, kurze Kleider, ihre Körper sind schlank und rank. Wer Kamera, Smartphone oder iPad dabei hat, macht Fotos von ihnen. Eine steht noch einmal auf, reckt den Arm in die Luft und ruft: „Femen, Femen“. Kitty Green, die junge australische Regisseurin, die die Aktivistinnen begleitet, fügt sich optisch ins Bild.

Ihr Film „Ukraine is not a Brothel“ läuft außer Konkurrenz, er widmet sich Femen auf recht konventionelle Weise, Interviewsequenzen wechseln mit Archivbildern von den spektakulären Aktionen. Und er entbirgt ein markantes Detail. Nachdem etwa zwei Drittel verstrichen sind, taucht ein Mann um die 40 auf, Victor ist sein Name, einen Nachnamen erhält er nicht.

Dieser ominöse Victor nennt sich selbst vor laufender Kamera „Patriarch“ und gibt sich als derjenige zu erkennen, der die Aktionen von Femen steuert. Er stellt die Logistik bereit, er erteilt den Aktivistinnen genaue Anweisungen.

Die, die in den Interviews eben noch stolz von „neuem Feminismus“ sprachen, reden jetzt von „Stockholm-Syndrom“. Mit Victor, erklärt eine, verhalte es sich wie mit einer gewalttätigen Beziehung. Obwohl der Partner zuschlage, bleibe man bei ihm, weil er einem auch Gutes tue. Am Ende des Films zaubert Green die Befreiung aus dem Hut wie ein weißes Kaninchen. Femen verlässt Kiew, zieht nach Paris und macht dort weiter. Ohne Victor.

Zweifaches Paradox

Ist das ein Skandal, muss man die Geschichte von Femen deshalb umschreiben? Oder ist es etwas ganz anderes – nämlich konsequent? Frauen, die gegen Sexismus kämpfen, indem sie ihre makellosen Brüste herzeigen, haben sich in einem Paradox eingerichtet. Von dort zum zweiten Paradox – einem Mann zu gehorchen und dabei zu glauben, man mache sich für die Sache von Frauen stark – ist es ein kleiner Sprung.

Je länger „Ukraine is not a Brothel“ dauert, umso eher drängt sich mir noch ein ganz anderer Gedanke auf: Der wahre Strippenzieher sitzt im Himmel, ist ein Meister der paradoxen Intervention, sein Name lautet Christoph Schlingensief.

So wie er mit der Kunstaktion „Ausländer raus!“ in Wien viel Verwirrung stiftete, indem er den xenophoben Blick auf sich selbst zurückwarf, so führt Femen seinem Publikum vor Augen, wie idiotisch es sich verhält, sobald es feministische Forderungen nur unter der Voraussetzung wahrnimmt, dass diese Forderungen von straffen Brüsten flankiert sind. Ob die Aktivistinnen, ob Kitty Green sich darüber bewusst sind, wage ich nicht zu beurteilen.

Virtuose Schwarz-weiß-Bilder

Währenddessen läuft der Wettbewerb zu großer Form auf. Der französische Regisseur Philippe Garrel stellt den Schwarz-Weiß-Film „La jalousie“ („Die Eifersucht“) vor. Sein Sohn Louis gibt darin einen jungen Schauspieler, der seine kleine Familie wegen einer anderen Frau verlässt.

Garell ist ein Virtuose, wenn es darum geht, die Schmerzen der Liebe zu inszenieren, das zeigt schon die erste Einstellung, eine ruhige Nahaufnahme der von ihrem Partner verlassenen Frau. Ganz langsam treten ihr Tränen in die Augen, beginnen ihre Mundwinkel zu flattern, nimmt der Schmerz ihr Gesicht in Besitz.

Beeindruckend ist an „La jalousie“, wie wenig sich Garrel einer luftigen Idealvorstellung von Liebe verschreibt. Bei ihm ist Liebe immer geerdet, es gibt ein Kind mit eigenen Bedürfnissen, es mangelt an Geld, die Wohnung ist zu klein, und die Frage lautet, wie sich Leidenschaft unter diesen konkreten, schwierigen Umständen behauptet.

Kleinfamilie im Rohbau

Auch in Tsai Ming-liangs „Stray Dogs“, einem ernst zu nehmenden Kandidaten für den Goldenen Löwen, der am Samstagabend verliehen wird, sieht man Gesichter, die kurz davor sind, in Tränen auszubrechen. Die Flüssigkeit scheint sich unter der Haut zu sammeln, den Augenblick, in dem sie austritt, sieht man nicht.

Der Regisseur aus Taiwan erzählt von einem Vater und dessen zwei Kindern; sie haben keine Wohnung, deswegen übernachten sie in einem Rohbau, der irgendwo dort steht, wo die Stadt nicht mehr urban ist und das Land noch nicht beginnt. Der Mann verdient ein wenig Geld, indem er sich mit Werbeschildern von Immobilien an Kreuzungen postiert; in einer langen Szene sieht man, wie er, von Wind und Verkehr umtost, ein Lied über die Trauer der Untertanen des Königs singt.

Tsai Ming-liang variiert die Motive, die man aus seinem Oeuvre kennt, die Isoliertheit der Figuren, ihre Sprachlosigkeit, die Allgegenwart von Wasser. Manchmal erschöpft er sich ein wenig im Selbstzitat, dann wieder ist er auf der Höhe seiner Kräfte, etwa in der Szene, in der der Protagonist nachts einen Kohlkopf zerreißt und zerbeißt und verschlingt. Die Kinder hatten daraus zuvor eine Puppe gebastelt, im Bett nahm sie den Platz der abwesenden Mutter ein.

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