Kolumne Klatsch: Man trägt Bier
Mit einer Bierflasche in der Hand durch die Stadt zu laufen ist in Berlin sehr beliebt. Das wird Folgen haben.
Philipp Maußhardt (49) ist Mitglied der Reportage-Agentur "Zeitenspiegel" und hat große Angst davor, seine Leser zu langweilen oder einzuschläfern. Darum klatscht er beim Schreiben oftmals laut in die Hände in der Hoffnung, dass sie es beim Lesen hören.
Hin und wieder fahre oder fliege ich nach Berlin. Es gibt dafür eigentlich keinen guten Grund. Berlin hat mit meinem Leben nichts zu tun, es liegt von meinem Dorf aus fast doppelt so weit weg wie Mailand. Nur eben in die falsche Richtung. Ich muss weder bei der Rentenversicherungsanstalt in der Ruhrstraße persönlich um eine kleine Erhöhung betteln, noch zwingt mich ein Bundestagsmandat, meine wertvolle Zeit in Ausschusssitzungen zu verplempern. Und trotzdem befällt mich etwa alle zwei Jahre eine innere Unruhe.
Es ist die Ungewissheit, ob mir in der deutschen Provinz nichts Wesentliches entgeht. Ich habe Angst, einen gesellschaftlichen Trend zu verschlafen und abgehängt von neuen politischen oder kulturellen Strömungen hinter dem Walde und den sieben Bergen unwissend dahin zu dämmern.
Diesmal fiel mein Berlin-Drang glücklicherweise zusammen mit der Werbeaktion einer Fluggesellschaft, die versprach, für 1 Euro inklusive aller Gebühren die Passagiere in die Hauptstadt zu fliegen. Entweder, sagte ich mir, will kein Mensch mehr nach Berlin und sie müssen bald noch für jeden Besucher Berlins 5 Euro draufzahlen, oder aber die Manager dieser Fluggesellschaft können nicht rechnen, weil sie ihr Abitur in Berlin gemacht haben. Das soll ja außerhalb Berlins auch nicht viel mehr wert sein als 1 Euro.
Das Flugzeug war erwartungsgemäß gut gefüllt. Ich entdeckte unter den Fluggästen sogar einen schwäbischen Multimillionär, der für seine T-Shirts immer vor der "Abendschau" im Fernsehen wirbt und einen Affen sagen lässt: "Ich kaufe nur Trigema-Produkte und sichere diese Arbeitsplätze." Wenn schon unsere Multimillionäre für 1 Euro nach Berlin fliegen, dann ist es um dieses Land nicht gut bestellt, dachte ich, und da landeten wir aber auch schon in Tegel.
Meine Trendforschung beginnt immer mit dem Verlassen des Flughafengebäudes. Ich schaue über die Gläser meiner randlosen Lesebrille und registriere alles mir Auffällige in einer Art innerem Logbuch. Schlecht gekleidete Menschen in der U-Bahn: nicht neu. Alte Männer, die in Papierkörben nach Pfandflaschen suchen: nicht neu. Jede Hauswand, jede Eingangstür mit Graffiti bekritzelt: nicht neu. Ich meine, nicht neu für Berlin. Für jemand aus Bretzfeld oder Waldenbuch schon.
Vor wenigen Wochen rief bei uns zu Hause die Polizei an, weil in der Nacht jemand mit schwarzem Filzstift drei kleine Buchstaben an die Hausfassade geschrieben hatte. Der Polizist fragte, ob wir wegen Sachbeschädigung eine Anzeige erstatten wollten. Wir wollten nicht.
Ob es ein solches Gesetz auch in Berlin gibt? Und was, wenn alle Berliner Hausbesitzer auf die Idee kämen, die Kritzeleien anzuzeigen?
Solcherlei Gedanken nachhängend lief ich durch Berlin-Kreuzberg und bemerkte zunächst gar nicht, dass jeder zweite Jugendliche, der mir begegnete, eine Bierflasche in der Hand hielt. Es werden wohl so um die fünfzig Bierflaschen an mir vorbeigegangen sein, bevor ich darin ein System erkannte. Einen Trend. Eine gesellschaftliche Entwicklung. Man trägt Bier. Erst dachte ich: Vielleicht sind es leere Flaschen, und weil es der 30. April war, also der letzte Tag im Monat, bringen sie heute ihre Pfandflasche zurück, um sich für 7 Cent noch ein halbes Brötchen kaufen zu können. Aber am nächsten Tag waren genauso viele Menschen mit ihren Bierflaschen unterwegs.
Das Bekenntnis zum permanenten und öffentlichen Alkoholkonsum war neu. Für mich jedenfalls. Ein Trend, der, wenn er von Berlin aus erst einmal nach Bretzfeld und Waldenbuch schwappt, weit reichende Folgen haben wird. Man kann sich nicht einfach mehr die rechte Hand schütteln, trifft man einen Bekannten. Man muss erst die Flasche abstellen. Aber vielleicht prosten wir uns ja in Zukunft einfach zu, anstatt zu grüßen.
Vereinzelt traf ich auch Wein- und Sekttrinker. Im Gehen setzten sie die Flasche an und tranken. "Die Gedanken kommen beim Gehen", sagte Friedrich Nietzsche. Nur nicht stehen bleiben!
Fragen zum Geh-Trinken? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried CHARTS
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