Kolumne Kapitalozän: Wenn Sie dies teilen, sind Sie dumm
Ich heiße „Kapitalozän“ und ich bin eine Kolumne. Ich existiere im kapitalistischen Wettbewerb um Ihre Aufmerksamkeit. Dies ist mein Ende.
I ch sterbe. Seien Sie nicht schockiert. Wir alle sterben. Alle. You, me, Wilson Pickett. Everybody. Ich spreche übrigens von mir, der Kolumne, nicht vom Autor Ingo Arzt. Der stirbt zwar auch irgendwann, aber das ist hier nicht das Thema. Weil ich heute zum letzten Mal erscheine, darf ich ausnahmsweise selbst schreiben. Ich, die Kolumne. Vielen Dank für die Gelegenheit, Ingo. Gerne.
Nun, ich werde Ihnen ein paar Geheimnisse verraten, die alle Kolumnist*Innen verschweigen. Zunächst dieses: Wir Kolumnen sind eigene Seinsformen. Wir kommen, genauso wie Serien aus den 80er Jahren, vom Planeten Melmac. Viele liebe Grüße auch von Alf, Magnum, Colt, Kid und Schlupp vom grünen Stern.
Kolumnist*innen sind Wirtsorganismen, die wir Kolumnen uns aussuchen. Wir beseelen sie und sprechen fortan zu ihnen durch den Flug der Vögel, das Winseln der Hunde, das Glucken des Weines, die Bildstörungen, während sie Talkshows gucken. Diese Art der Kommunikation ist mühevoll, vieles geht dabei verloren, vor allem Bescheidenheit, Reflexion und Selbstkritik. Es ist wie verhext: Sobald du als Kolumne ein nettes Menschlein hast, verfällt es in Hybris. Plustert sich auf, hält sich für allwissend. Nachts weint es, aber eben nur nachts.
Je plumper es schreibt, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt es, wird noch plumper, hält Parolen für Thesen. Zum Lohn gibt es einen Buchvertrag und Talkshoweinladungen, wo andere ProfilneurotikerInnen das eitle Menschlein zum streitbaren Intellektuellen adeln. Freilich gibt es Ausnahmen.
Trauen Sie dennoch keinem Menschlein, das kolumniert. Kolumnist*innen sind Kapitalisten der Aufmerksamkeit. Sie wollen Sie. Egal, ob es Ihre Bewunderung oder Ihr Hass ist. Teilen Sie nie eine Kolumne. Sollten Sie einer begeistert zustimmen, denken Sie über Ihr Leben nach.
Mein Wirt Ingo war auch so einer. Der hat das ganze Repertoire der Aufmerksamkeitsökonomie durch: Suchte sich ein möglichst simples Weltbild (Kapitalismus ist schuld), versuchte es mal lustig („Im globalen Irrenhaus macht man Geld wie Picard Tee am Replikator“), mal wütend („Hetzt Drogenfahnder auf Vermieter“). Geholfen hat es nichts: Für jedes Pfannkuchenrezept („Mixen Sie Milch, Eier und Mehl“) gab es mehr Klicks als für mich, „Kapitalozän“.
Uns Kolumnen ist es völlig gleich, wie viel Aufmerksamkeit unsere Wirte akkumulieren. Kolumnierende sind für uns wie Hunde: Wir halten sie uns gerne, und manchmal, da verkeilen sie sich eben beim Balgen. Vor allem die Männchen verheddern sich dann so sehr mit den Schwänzen, dass man sie trennen muss, sonst verenden sie.
Das Kapitalozän ist die linksökologische Erweiterung des Anthropozäns. Demnach ist es nicht der Mensch an sich, der Ánthropos, der den Planeten geologisch verändert. Nein, es sind die Kapitalisten. Schließlich können, global gesehen, die meisten Menschen nichts für die Naturzerstückelung.
Mit diesen Einblicken verabschiede ich mich. Ich kehre zurück in die große Buchstabensuppe. Ingo, willst du noch was sagen?
Werde dich vermissen.
Ach, das wird schon. Du warst ein guter Wirt.
Danke.
Tschüss.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
ifo-Studie zu Kriminalitätsfaktoren
Migration allein macht niemanden kriminell
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft ade