Kolumne Jung und Dumm: Kracht als Erscheinung

Sorgsam kiefermalmend hört Christian Kracht verunsicherten Germanisten im Frankfurter Hörsaal zu. Da müssen Schlagworte her.

Ein Mann mit Brille und Zigarette im Mund

Christian Kracht nach der Präsentation des Films „Finsterworld“ in 2014 Foto: dpa

Das Chamäleon entwickelt eine Meinung zu David Foster Wallace, sobald ein Mittzwanziger den Raum betritt: So hieß es vor Kurzem unter einer Karikatur im New Yorker. Auf Deutschland übertragen, müsste man nur die Namen ersetzen – Wallace durch Christian Kracht und Mittzwanziger durch universitäre Germanistik, deren Protagonisten schließlich meist ja auch schon etwas älter sind. Die Uhren der Forschung gehen halt langsamer und sowieso sehr eigen.

So ist es zum Beispiel schon fünf nach zehn, als an jenem Freitag in Frankfurt die neuerdings in „Prä- und Post-Frankfurt“ unterteilende (oder diese Unterteilung fortan zumindest genauso emphatisch, augenrollend, ablehnen müssende) Kracht-Rezeption, passend zur Themenwoche Kracht, sich selbst eine Germanistentagung eröffnet, auf der alte Professorenmänner aus ganz Deutschland Anzugschrankduftwolken ausströmen, am Pinkelbecken Projektstellen zuteilen und, einander rhetorisch umscharrend, gleich zwei dieser immer seltsamen Kanonisierungen auf einmal prozessieren (einerseits Krachts, andererseits ihres Forschernachwuchses), als deren Zuschauer man nicht anders kann als sich obszön und falsch am Platz zu fühlen.

Jene, also die Zuschauer, sind, und deshalb lesen Sie, anders als von den aufsehenerregenden Poetik-Vorlesungen, erst an dieser Stelle darüber, außer den Literaturwissenschaftlern selbst und mir, nur ein paar andere Studis und ein bisher beharrlich schweigender Feuilleton-Redakteur.

Verunsicherte Germanisten

Außerdem Kracht selbst. „Verschwommene Realität“ wird einer der Germanisten den Effekt nennen, der von seinen Texten ausgeht; dass das zu institutionalisierende Forschungsobjekt, eben der Autor Kracht in seiner wunderlichen Schratigkeit, während all dieser Interpretationsverhandlungen anwesend ist, lässt deren Realität indes ganz gehörig verschwimmen. Sorgsam kiefermalmend hört er zu. Themen sind: Ironie und neue Ernsthaftigkeit, Paratexte, Selbstinszenierung; Kracht als Schriftsteller, Kracht als Reporter, Kracht als Herausforderung. Kracht als Erscheinung. Es ist ein bisschen wie bei „Das ist Ihr Leben“.

Die Germanisten sind, jung wie alt, spürbar verunsichert, wie sie mit alledem denn nun vernünftig umgehen sollen. Schließlich war Christian Kracht doch der stets sich Entziehende, Spielende, fünfzehnfach Ironische, bei dem man sich immerzu fragt, ob er jetzt überhaupt wirklich da sitzt. Jetzt sitzt er da.

Ebenso wie, zitternd, am Pult der Poetik-Vorlesung dasteht, in der er schildert, als Kind im kanadischen Internat missbraucht worden zu sein – von ebenjenem Pfarrer Keith Gleed, der in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten hinter dem juvenilen Ich-Erzähler keucht und masturbiert; in der er von Folterungen durch Mitschüler und gefühlskalten Eltern erzählt, sein Werk davon ausgehend deutet, sich einer geradezu mustergültigen Selbstanalyse unterzieht: „Homosexualität als Avatar“, Körperpanzer, Subjektwerdung, Lacan, Objekt klein a, Lindtschokolade, Libido, Mutter. Väter – eine ganze, leicht surreale Reihe: Mann, Benjamin, Theweleit, Adorno, Eliot, Schlingensief, Paul Celan, Alice Schwarzer.

Bis zur Parodie übererfüllt

Er habe sein Internatszimmer mit Alufolie ausgekleidet, sagt er einmal, und es ist ein bisschen so, als habe er das auch mit dem Vorlesungssaal gemacht, als sei dieser sein insektoides „Exoskelett“ (aus welchem, übrigens, weder eigene Foto- noch Videoaufnahmen nach draußen gesendet werden durften; selbst längere Zitate aus der Veranstaltung wurden Spiegel Online landgerichtlich verboten), innerhalb desselben er die Anforderungen dieser merkwürdigen Literaturbetriebs-Institution Poetik-Vorlesung bis zur Parodie übererfüllt und doch so ernst und verletzlich erscheint wie noch nie.

So müssen bei aller Verunsicherung Schlagworte herhalten: „jüngste Ereignisse“, „Unumstößlichkeit“, „Werkherrschaft“. „Prä- und Post-Frankfurt“. Später am Tag, als Kracht nicht mehr da ist, geht es handfester zu: Steht die Forschung über ihn nun unter geänderten Vorzeichen? Was bedeutet das? Vor allem, um einmal mehr mit Spiegel Online zu fragen: „Kann man Kracht glauben?“

Es fällt der Name Bruno Dössekker, ein Autor, der als Binjamin Wilkomirski vor gut zwanzig Jahren gefälschte Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager veröffentlicht hatte (so wie sie dem Erzähler in erwähntem Roman eingepflanzt worden waren). Aber Moment mal – war man nicht eigentlich gegen „biographistische Lesarten“? Nicht zuletzt: Ist die grüne Vorlesungsjacke etwa eine Barbour-Jacke, so wie die aus Faserland?

Hinter lauter Menschen am Signiertisch ist der Autor ganz verschwunden. Als nach langer Zeit endlich ich an der Reihe bin, sage ich meinen Namen so undeutlich, dass er ihn erst beim dritten Mal versteht, und vergesse vor Aufregung völlig zu fragen.

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Seit 2015 bei der taz, zunächst als Praktikant, dann als freier Autor und Kolumnist (zurzeit: "Ungenießbar"). Nebenbei Masterstudium der Ästhetik in Frankfurt am Main. Schreibt über Alltag, Medien und Wirklichkeit.

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