Kolumne Ich meld mich: Aus der Traum
Wir haben unsere Traumziele, Mythen, Legenden. Manche wie Aleppo, Palmyra oder Timbuktu verschwinden einfach von der Landkarte.
U nd der Wind von Zeebrugge …“ – war es ein Chanson, eine Zeile aus einem Buch oder hatte ich es mir selbst ausgedacht? Jedenfalls setzten die Worte sich fest in meinem Kopf, und ab da stand Zeebrugge auf der Liste meiner Traumziele. Samarkand gehörte dazu. Das Stadion „Rote Erde“ in Dortmund. Das Goldene Dreieck am Mekong … Jeder hat so eine Liste im Kopf. Es sind Orte, deren Namen aufgeladen sind mit Bedeutung. Oft sind sie vollkommen belanglos für andere.
Zeebrugge – das war für mich ein Hafen, in dem verrostete Seelenverkäufer vor sich hin dümpelten, Männer in blauen Wollpullovern sich gegen einen nie endenden Sturm stemmten und blutleere Gräfinnen aus Russland in menschenleeren Cafés der Liebe ihres Lebens nachtrauerten. Passt überhaupt nicht zusammen, ich weiß. Trotzdem.
Neulich war ich in Zeebrugge. Es ist ein Städtchen mit breitem Sandstrand, hässlichen Wohnblocks und hohen Containerkränen. Im über 100 Jahre alten Imbiss „t’Werftje“ gibt es die angeblich besten Garnelenkroketten Belgiens, zwei Stück für 5,80. Es ist immer anders als erwartet.
Und dennoch war ich nie enttäuscht, wenn ich denn endlich einmal in oder vor einem meiner Traumziele stand. Dass die Menschen in Samarkand in Biergärten saßen, „Baltica“ tranken und amerikanische Weihnachtslieder hörten – schlug das nicht jeden Seidenstraßen-Traum?
Oder wer würde erwarten, das ausgerechnet im Drogenmekka Goldenes Dreieck eine „Hall of Opium“ vom großen Geld und großen Elend rund um die Droge erzählt? Und wenn das Stadion „Rote Erde“ geradezu niedlich vor mir lag – war das nicht wie ein Gruß aus jener Zeit, als der Fußball noch bei sich zu Hause war? Traumziele. Mythen. Legenden. Manche erledigen sich von selbst. Timbuktu wird nie wieder sein, was es war. Und wohl auch nicht Palmyra.
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