Kolumne Ich meld' mich: Das bisschen Licht von Potsdam
Fremd und zu Hause zugleich fühlt man sich im November auf Reisen. Städte, die man in ihrer spätherbstlichen Melancholie erlebt, prägen sich ein.
Ich verreise gerne im November. Ich liebe es, nebelverhangene Landschaften am Zugfenster vorbeifliegen zu sehen, in die Perlenschnüre der Regenschauer zu starren und an einem Bahnhof anzukommen, durch dessen Unterführung ein eisiger Wind pfeift. Nackt und ehrlich präsentieren sich jetzt die Städte, all ihres touristischen Glimmers und Glamours entblößt.
Fassaden werden heruntergeklopft, Straßen aufgerissen, selbst an der abendlichen Beleuchtung sparen sie. Nichts ist daran trostlos. Näher kann man einer Stadt nicht kommen.
Wie schön der Moment, in dem man aus dem unwirtlichen Außen eintritt in ein kleines Hotel, am Empfang klingelt und lange warten muss, bis sich in der Tiefe des Hauses etwas rührt: Mit Gästen haben sie nicht gerechnet.
Später zieht man los. Stapft durch Blätterberge am Bodensee oder trotzt Windböen in Köln. Verdämmert den Nachmittag in einer Apfelweinkneipe in Sachsenhausen. Sieht zu, wie der einbrechende Abend das bisschen Licht von Potsdam aufsaugt – Städte, die man in ihrer spätherbstlichen Melancholie erlebt, prägen sich unvergesslich ein.
Auf besondere Wertschätzung kann der Besucher jetzt nicht hoffen. Kellner lösen Kreuzworträtsel, und es braucht viel, bis sie sich aus ihrem Blues lösen. Die Museen sind noch leerer als sonst, die Aufseher wirken noch entrückter.
Wie verwachsen mit Bildern und Wänden dämmern sie auf ihren Stühlen dem unendlich fernen Feierabend entgegen – jeder Teil einer geheimnisvollen Installation.
Abends geht man dahin, wo die Einheimischen sind. Nicht um sich anzubiedern, sondern um das Fremde fremd sein zu lassen. Der Kirchenkreis gibt einen Schubert-Liederabend, ein Studienrat hält einen Diavortrag über die Karpaten, und mit etwas Glück trifft man in einer Kneipe in Darmstadt den abgehalfterten Lokalpolitiker, der einen voller Bitterkeit ins Benehmen setzt über die Intrigen der lokalen Prominenz.
Fremd und zu Hause zugleich fühlt man sich im November auf Reisen. Fremd in der Stadt. Und aufgehoben im eigenen Land.