Kolumne Globetrotter: Aufrecht nächtigen
Ist Nuit debout gelebte Demokratie oder Spuk? Unsere Autorin erinnert die französische Protestbewegung erst einmal an berühmte Steine.
Es war gar nicht das Ziel unseres Familienausflugs gewesen, aber als wir zufällig am Dorf von Carnac vorbeifuhren und ich meinte, ich hätte dessen berühmte Steinreihen noch nie gesehen, bog mein Vater prompt rechts ab. Der Umweg lohnte sich: Die 3.000 mystischen Menhire an der bretonischen Südküste sind wirklich beeindruckend; dabei weiß keiner genau, was sie zu bedeuten haben.
Während meine Eltern absurdeste Theorien vortrugen, fühlte ich mich beim Anblick der Steine an die Nuit-debout-Bewegung erinnert. Vor wenigen Tagen, an einem Abend Anfang April, staunte ich nicht schlecht, als ich die U-Bahn-Treppe zur Pariser Place de la République aufstieg – eine Verabredung in der Nähe hatte mich dorthin gebracht.
Hunderte von Menschen standen da still versammelt und hörten einem Mann zu, der auf einem kleinen Podest stand und über Lautsprecher vorschlug, die Versammlung von „Nuit debout“ (Nachts aufrecht) auf „Recréation“ (Neuerschaffung) umzubenennen. Da wusste ich noch nicht mal, was Nuit debout ist – die soziale Bewegung, die im Zuge der Proteste gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts zustande kam, war ja noch frisch.
Doch beim Schlendern durch die Menge wurde mir klar, dass es hier nicht nur um Begrifflichkeiten und weit mehr als den neuen Gesetzentwurf geht. Nacht für Nacht wird seither für mehr Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Freiheit gekämpft. Die Lust, sich auf öffentlichen Plätzen politisch partizipativ einzubringen, hat schnell die BürgerInnen in vielen anderen Städten erobert – Versammlungsverbot hin oder her.
Im 50.000-Seelen-Städtchen La Roche, unweit der Atlantikküste, wo meine Eltern wohnen, fand am 8. April die erste Nuit statt: Etwa 70 Menschen fanden sich auf der zentralen Place Napoléon ein: Rentner, junge Eltern, StudentInnen und linke AktivistInnen fanden sich ein.
Irgendwann bemängelten einige TeilnehmerInnen, dass immer die Gleichen reden. Fortan sollte jeder, der etwas sagen will, zunächst die Hand heben und warten, bis er an die Reihe kommt.
„Wir diskutieren hier nur“
„Wir dürfen nicht zulassen, dass Natur und Nahrungsmittel weiterhin mit Pestiziden verseucht werden“, sagte einer. „Wir Bürger werden nur noch als Konsumenten behandelt“, bedauerte eine andere. „Der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist schwach wie nie“, der nächste. Viele sind enttäuscht von der sozialistischen Regierung, die sie gewählt haben. „Wir haben keine Demokratie!“
Am Abend des 12. April gehe ich noch mal vorbei. Diesmal stehen wir zu zwanzigst da. Ein Viertel der Gesichter erkenne ich wieder, der Rest ist neu. Mein Nachbar zum Beispiel: „Ich war kurz bei der Bank, um einen Scheck einzureichen.“ Als er den Platz noch mal durchquerte, öffnete sich der Kreis und nahm ihn auf. Von jedem neu Dazugekommenen kommt die gleiche Frage: „Und, was habt ihr konkret vor?“
Die Antwort lautet jedes Mal: „Erst einmal diskutieren wir hier nur.“ Hört sich nach wenig an, ist aber schon viel – nur dazustehen, friedlich, still und besonnen mit Unbekannten über Politik und Gesellschaft zu reden; ahnungslos, was sich aus der kollektiven Bewegung entwickeln kann, und doch seltsam zuversichtlich. „Weißt du, damals 1789, da wussten die Typen auch nicht, dass sie die Revolution starten“, flüstert mir mein Nachbar wie elektrisiert zu.
Am Freitag kam es, so lese ich, in Paris zu ersten Krawallen um die Place de la République. Am Samstag wurde der kontroverse Philosoph Alain Finkielkraut – angeblich von einer Gruppe junger KommunistInnen – am Rande der Veranstaltung des Platzes verwiesen, was ausgerechnet den Front National dazu verleitete, die Bewegung als undemokratisch zu bezeichnen. Mittlerweile begegnen sämtliche Parteien dem nächtlichen Spuk mit wachsender Skepsis. Doch die Nuitdeboutisten scheint nichts aus der Ruhe zu bringen. Stoisch gehen die Treffen Nacht für Nacht weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!