Kolumne Gerüchte: Aufdringlich sein als Psychostress
Einen Abend als Werbeverteilerin arbeiten, und man fängt an, nette Prolls richtig gern zu haben und Bildungsbürger zu hassen.
B is vergangenen Sonntag hatte ich viel Verständnis für Leute, die auf Ihrem Briefkasten das Verbotsschildchen pappen haben: "Bitte keine Werbung!" Der Bildungsbürger will sich nicht das Hirn mit Rabattangeboten von Schweinebraten, Federkernmatratzen und Busreisen zumüllen lassen! Seit Sonntag sehe ich die Sache anders. Ganz anders.
"Besser nicht im Erdgeschoss klingeln, sonst kommen die Leute raus und meckern", hatte mir mein 15-jähriger Sohn David eingeschärft. Er hat einen Schülerjob als Werbeverteiler und war ein bisschen erkältet. Ich hatte deshalb angeboten, einen Straßenzug zu übernehmen und am Sonntagabend 140 "Berliner Abendblätter" ("Ihre Wochenzeitung für Tempelhof") plus Prospekte irgendwie an die Haushalte zu bringen.
Ich hänge zwei mit Zeitungen und Werbezetteln gefüllte, sehr schwere Tragetaschen links und rechts an den Fahrradlenker und ziehe los. Der Schutz der Dunkelheit ist mir nicht unlieb. Beim ersten Hauseingang muss ich bei vier Mietern hintereinander klingeln, bis schließlich einer auf den Türöffner drückt. Ich schlüpfe hinein und lege einen Stapel "Abendblätter" auf den Treppenabsatz, wie mich David angewiesen hat. Gern würde ich dem Öffner oder der Öffnerin noch einen "schönen Abend" wünschen, doch das Treppenhaus bleibt still.
Barbara Dribbusch ist Inlandsredakteurin der taz.
Am zweiten Eingang erklingt vom dritten angeläuteten Mieter ein kühles "Ja bitte?" aus der Sprechanlage. "Guten Abend. Ich bringe das Abendblatt", sage ich. "Wir wollen keine Werbung!", bellt es mir entgegen. Ich läute beim vierten Mieter. Der fünfte öffnet, ich schlüpfe hinein, um meine Last abzulegen. Man fühlt sich schon ein bisschen halbseiden. "Betteln und hausieren verboten!" Aufdringlich sein zu müssen, das ist Psychostress.
Beim vierten Eingang schickt sich gerade ein Mittvierziger in hellem Regenmantel und schmaler Designerbrille an, von außen die Haustür zu öffnen. "Guten Abend. Vielleicht können Sie mich kurz hineinlassen?" - mein Ton sackt ins Servile. Eine dick eingemummelte Frau mittleren Alters mit Wollmütze und schweren Taschen links und rechts am Fahrradlenker. Das ist fast wie obdachlos.
Sein Mund verzieht sich nach unten, während die feingliedrige Hand mit dem Schlüssel hantiert. "Werbung im Hausflur zu verteilen ist untersagt", rügt er mich in einem Ton, als hätte ich ihm faule Äpfel andrehen wollen, "sehen Sie denn das Schild nicht?" Und tatsächlich, oben links an der Haustür klebt ein kleines Schild mit dem roten Verbotszeichen. Ich bin eine Illegale.
Auch am nächsten Eingang mache ich das Schildchen aus und ziehe weiter. Dann wird alles anders. Ein Bewohner kommt gerade nach Hause, in Trainingshosen. "Warten'Se, ich mache Ihnen auf, sonst hätten'Se ja keene Schangse", sagt er freundlich. Das finde ich toll, diese Leute, die für "Chance" nicht "Schoohs" sagen, sondern "Schangse". Ich werde eingelassen in den Hausflur wie ein willkommener Gast, lege einen Stapel Abendblätter ab. "Ich nehme mir gleich eins mit", sagt der Retter meines Selbstwertgefühls. Immerhin steht im Abendblatt ein bisschen was Redaktionelles. Und kosten tut es wirklich nichts.
"Vielen Dank und Ihnen noch einen schönen Abend." Mein dankbarer Ton scheint ihn zu freuen, "Viel Glück noch", höre ich. Wahrscheinlich hat er es auch nicht leicht.
Ich will jetzt nicht erzählen, was mit dem Rest der "Abendblätter" geschah. Nur so viel: Am Dienstagabend rief ein Telefonwerber bei mir zu Hause an, das ist eigentlich auch verboten. "Zehn Minuten Umfrage?", sage ich, "da haben Sie eine Schangse. Fangen wir an."
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