Kolumne Geräusche: Meine Lieblingssibylle
Wer Berlin quittiert, wird allseits recht ruppig anbedauert. Dabei fällt auch anderswo der Regen von oben nach unten, und die Bäume wachsen von unten nach oben.
S eltsam fühlt sich das an, Berlin den Rücken zu kehren. Weniger wegen des Umzugs selbst als wegen der mitfühlenden Kommentare, die man sich deshalb anhören darf. Ein Freund verstieg sich gar zu dem schmeichelhaft gemeinten Vergleich, dass dann wohl demnächst auch "Woody Allen nach Bielefeld" zieht. Mickey Rourke wohnt schon in Wiesbaden, ohne Witz.
Jedenfalls wird, wer Berlin quittiert, allseits recht ruppig anbedauert wie einer, der viel zu früh eine Party verlassen will. Das Beste kommt doch erst noch! In Berlin wartet das Beste doch immer hinter der nächsten Ecke! Nirgends lässt sich das Leben besser vertrödeln als dort, wo man quasi jeden Tag ein neues beginnen könnte!
Umso größer meine Überraschung, dass auch andere Weltwinkel bevölkert sind. Auch hier gibt es auf der Straße still vor sich hin brummelnde Alkoholiker, lauthals streitende Türken und junge Leute mit diesen bunten Quatschsonnenbrillen auf der Nase. Der Regen fällt von oben nach unten, die Bäume wachsen von unten nach oben. Verblüffend. Auch musikalisch habe ich bisher nichts vermisst. Neue Trends fallen mir meistens eh dann erst auf, wenn ich im Sommer die ersten Leute sichte, die T-Shirts oder Tattoos der entsprechenden Labels oder Künstler durch den Görlitzer Park tragen.
Wenn ich etwas entdecke, dann selten das Herausragende. Eher das Verschüttete. Neulich beispielsweise begegnete mir erstmals Sibylle Baier. Ihr Album "Colour Green" schlief schon seit fünf Jahren einen Dornröschenschlaf auf dem iPod, wo ich es sofort nach dem Draufladen schlicht vergessen hatte. Vielleicht, weil Sibylle Baier so dermaßen unglamourös klingt, dass ihr Name zwischen Sibelius und Sigur Rós einfach unsichtbar wurde. Was wiederum ganz gut passt, weil Sibylle Baier selbst unsichtbar geworden ist.
ist Autor der taz. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.
Echte Filmfreunde kennen sie vielleicht (also eher nicht) aus Wim Wenders "Alice in den Städten" von 1974, und damals hatte sie alle wesentlichen Lieder schon aufgenommen. Fotos aus dieser Zeit zeigen eine unwahrscheinlich schöne Frau, spätere Fotos – oder Lieder – gibt es nicht: Sibylle Baier zog in die USA, heiratete irgendwen, bekam irgendwelche Kinder und verschwand von der Bildfläche – bis ihr Sohn Robby eines Tages die frühen und knarzenden Wohnzimmer-Aufnahmen seiner Mutter wieder herauskramte, weshalb dann doch noch "Colour Green" erschien, 2006, was ich jetzt zu schätzen lerne, mit fünf Jahren Verspätung, was wiederum aber auch nichts macht, weil diese Musik sich selbst fast 40 Jahre lang entfallen war, kurzum: Sibylle Baier ist heute, einen Wimpernschlag nur hinter Sibylle Berg, meine Lieblingssibylle.
Wie Nico, nur ohne diese langweilige Heroinscheiße. Wer jemals dachte: "Leonard Cohen? Schön und gut, aber leider ist der Typ ein Mann", der sollte Frau Baier hören. Am besten in einer noch unbekannten, weitläufigen und leeren Wohnung. Nirgends hallt es schöner.
Text: "Do you know Wim? He likes cities and I like him" (Sibylle Baier).
Musik: Das verhaltene Keuchen, mit dem Flug LH456 nach Los Angeles über dem Taunus an Höhe gewinnt.
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