Kolumne Geräusche: Der Sound der andern
Wer nicht hinhört, lebt besser: Das wusste schon Balthasar Gracian in seinem Handorakel.
D unkel ist es, wenn die Eltern in der Küche streiten, man hört jedes Wort und versteht doch nichts. Worum geht es? Geht es um mich? Bin ich schuld? Was habe ich getan? Und was werden die Konsequenzen sein? Wird man mich aussetzen? Oder werden sich die Eltern trennen, weil ich so böse bin?
An solche zur Erstarrung im Stockbett führenden Grübeleien erinnere ich mich sehr gut; aber es ist eine entspannte Erinnerung. Über das Unbewältigte, weil zum Zeitpunkt des Erfahrens nicht Einzuordnende, der Kindheit zu reflektieren, habe ich mir zwanzig Jahre Zeit gelassen, habe es weggelebt und auch mal weggetrunken, ein Buch darüber geschrieben und dann schließlich - entscheidendes Detail - zwei eigenen Kindern auf die Welt geholfen.
Ich kürze ab: Ich bin ein glücklicher Mensch über 40 geworden - was nicht bedeutet, dass ich immer glücklich wäre, da würde ich ja unglücklich dabei werden. Aber mit 18 hätte ich eine solche Entwicklung nie für möglich gehalten. Meine Mutter bestätigte mir das kürzlich am Telefon, indem sie gewohnt nonchalant kurz vor dem Einhängen anmerkte, dass "ich und dein Vater das gar nicht erwartet hätten, dass du noch mal die Kurve kriegst". Und ich, wäre ich gewitzter, hätte natürlich antworten müssen: "Das hätte ich auch nie erwartet, dass ihr noch mal die Kurve kriegt!"
Wenn zwei sich streiten, bin ich jedenfalls weder der eingebildete Betroffene noch der lachende Dritte - Häme ist mir fremd. Ich bin schlicht derjenige, der das einzige Lebenshilfebuch, das sich zu lesen (kurzer Schwenk zur Buchmesse) lohnt, ernst nimmt: "Sich zu entziehen wissen" ist dort der Paragraf 33 überschrieben und führt dann aus: "Wenn eine große Lebensregel die ist, daß man zu verweigern verstehe; so folgt, daß es eine noch wichtigere ist, daß man sich selbst, sowohl den Geschäften als den Personen, zu verweigern wisse. Es giebt fremdartige Beschäftigungen, welche die Motten der kostbaren Zeit sind. Sich mit etwas Ungehörigem beschäftigen, ist schlimmer als Nichtstun."
"Die Motten der kostbaren Zeit" - ist das nicht toll? Vorausgesetzt natürlich, man schätzt die eigene Zeit als kostbar ein; aber auch das muss man eben lernen. Arthur Schopenhauer nahm es gleichgültig hin, dass seine hier zitierte Übersetzung von Balthasar Gracians "Oráculo manual y arte de prudencia" zu Lebzeiten nicht an die Leser zu bringen war: "Lassen Sie den Stoß Papier in irgendeinem Winkel ihres Hauses rasten. Weder Gracian noch ich verlieren dadurch ihr Verdienst", schrieb er dem Verleger F. A. Brockhaus. Erscheinen konnte die Übertragung dann erst posthum 1862.
Genug bildungsgehubert, hier ging es um Geräusche, um unangenehme. Die aus Räumen und Mündern, über die wir nicht bestimmen, in unsere Ohren dringen, welche sich - da geht noch was, Evolution - nicht natürlich wie die Augen verschließen lassen. Sirenengesänge des Klatsches, der Gerüchte und der unerzogenen Gefühle.
Text: If you mind your own business, then you wont be mindin mine (Hank Williams).
Musik: Radetzky-Marsch (Johann Strauss, Vater).
Lesen gegen das Patriarchat
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