Kolumne Fremd und befremdlich: Löchrige Gerechtigkeit
Regeln sind wichtig. Aber es gibt keine Gerechtigkeit, auch wenn sich alle an die Regeln halten. Oder täusche ich mich?

I ch bin ein Mensch, der sich auf eine vielleicht übertriebene Art und Weise an Regeln hält. Ich werde oft dafür ausgelacht, und ich weiß nicht, ob es nicht auch daran liegt, dass ich mich in einer Welt der Regeln gut zurechtfinde, dass eine solche Welt meinem Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung entgegenkommt.
In einer Welt, in der die Menschen alle dieselben Regeln befolgen, da muss es doch, innerhalb dieses Regelwerkes, eine gewisse Gerechtigkeit geben, oder nicht? Nicht, sagen die, mit denen ich unterwegs bin, und die mich auslachen, weil ich nicht bei Rot über die Straße gehe. Es gibt keine Gerechtigkeit, auch wenn sich alle an die Regeln halten. Denn wir sind Individuen, die diese Einhaltung mehr oder weniger kostet, und darin liegt die Ungerechtigkeit.
Einer Berliner Kassiererin wurde 2008 nach 31 Arbeitsjahren fristlos gekündigt, weil sie einen Kassenbon im Wert von 1,30 Euro für sich eingelöst haben soll. Dies zog einen zweijährigen Rechtsstreit nach sich, in dessen Verlauf sie in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht dahingehend Recht bekam, dass ihr Verhalten lediglich eine „erhebliche Pflichtwidrigkeit“ darstelle, in deren Konsequenz nur eine Abmahnung hätte erfolgen dürfen.
Es ging wohl ums Prinzip, und das kann ich verstehen. Das Prinzip ist wichtig, Regeln sind wichtig, dass sich alle dran halten, auch im kleinsten Maßstab. Denn das hält die Gesellschaft zusammen.
Dann gibt es Fälle, wie den in Lügde, wo über einen langen Zeitraum Kinder missbraucht worden sind und wo es offensichtlich ist, dass manche Leute einen Fehler und ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht haben. Einmal und noch einmal, und wieder.
Jeden Tag neue Fehler
Jeden Tag lese ich die Nachrichten dazu, und jeden Tag kommen neue Fehler dazu. 155 Datenträger sollen aus der Sichtungskammer der Polizei weggekommen sein, Beweisstücke zur Aufklärung von schlimmen, von widerwärtigen Verbrechen. Und es lässt sich nicht nur bisher nicht ermitteln, wer die Datenträger wo hingebracht hat, es lässt sich anscheinend, gegenüber der Öffentlichkeit, auch nicht sagen, wer dafür verantwortlich ist.
Jetzt wird die Verbrecherhütte abgerissen, und da finden die Abbruchunternehmer weitere Datenträger, und am nächsten Tag schon wieder. Ich frage mich, warum ist es so schwer, verantwortliche Menschen zu finden und, zum Beispiel, zu entlassen? Wie eine Supermarktverkäuferin, die einen Kassenbon einlöst, den jemand verloren oder vergessen hat.
Man kann das nicht vergleichen. Es gibt Strukturen, in denen sich einfach nicht ermitteln lässt, nur ganz schwer, wer zuständig oder gar verantwortlich ist, offensichtlich, und dann gibt es wiederum Strukturen, wo einer entlassen wird, wenn er einen Pfandbon aufhebt.
Martin Winterkorn und die Verantwortung
Dann gibt es noch ganz andere Geschichten und man kann sie ganz sicher – nein – nicht vergleichen. Die Geschichten lauten zum Beispiel so: Martin Winterkorn, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des VW-Konzernes, Träger des Bayerischen Verdienstordens, der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, des Ehrenringes der Stadt Garbsen, des Dresdner Sankt Georgs Ordens und des Großkreuzes des Ordens Isabellas der Katholischen, ist am Montag von der Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen besonders schweren Falles des Betrugs, Verstoßes gegen unlauteren Wettbewerbes sowie Untreue angeklagt worden.
Bisher hat er behauptet, von den Abgasmanipulationen in dem Konzern, dem er vorstand, nichts gewusst zu haben. Sein jährliches Gehalt soll 17 Millionen Euro betragen haben. Man kann 17 Millionen verdienen und sagen: Ich bin nicht verantwortlich. Wofür bekommt man 17 Millionen? Was ist der Gegenwert für einen solchen Verdienst? Wie wertvoll muss die Arbeit sein, die man leistet, wenn sie denn nicht in Verantwortung besteht?
Haben diese ganzen Sachverhalte miteinander zu tun? Kann man sie vergleichen? Gibt es Gerechtigkeit? Warten wir den Prozess gegen Herrn Winterkorn ab. Sein Geld soll er bereits in die Schweiz transferiert haben, legal.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator