Kolumne Fernsehen: Notorische Indiskretion
Manchmal fühlt man sich in der S-Bahn wie bei "Big Brother" - und der Zwang hinzusehen kann schmerzhaft sein.
I ch weiß nicht, wie sie heißt - das immerhin hat sie für sich behalten. Ansonsten bin ich nach neun Minuten gemeinsamer S-Bahn-Fahrt bestens im Bilde. Es waren nur neun Minuten, nur dreimal so lang wie Zähneputzen, aber neun Minuten können seeehr lang sein. Wenn ich sagen würde, es waren die längsten neun Minuten meines Lebens, wäre das nur leicht übertrieben. Da hätte ich mir lieber eine Stunde die Zähne geputzt.
Kaum war sie am Essener Hauptbahnhof in die S 9 Richtung Haltern am See eingestiegen, rief sie ihren Vater an und forderte ihn barsch auf, sie am Bahnhof abzuholen. Als der sich beschwerte, er habe sie doch erst am Abend zuvor am Essener Hauptbahnhof auflesen müssen, wurde sie richtig ärgerlich: "Doch nicht am Hauptbahnhof - in Gerschede!" Dann rief sie ihre Mutter an und beschwerte sich über den Vater - aha, ein Scheidungskind.
Die Sache mit dem Abholen war nur der Einstieg in eine stundenlange - also etwa siebenminütige - Unterhaltung über die Unzulänglichkeiten ihres Vaters und darüber, wie schlimm das Leben ihr doch mitspielt. Ganz schön pubertär die junge Dame, die allerdings kurz vorm Abi steht, wie sich bald herausstellte. Was sie nicht davon abhielt, ihrer Mutter vorzuheulen, wie unmöglich es sei, dass ihr Vater von ihr verlange, trotz Prüfungsvorbereitung mit dem Familienhund Shari Gassi zu gehen. Ich überlegte kurz, wie es wohl wäre, ihr Freund zu sein, verdrängte den Gedanken aber schnell. Ich wollte mir den Abend nicht weiter verderben.
David Denk ist Medien-Redakteur der taz.
Deswegen entschied ich mich auch dagegen, ihr vor versammelter Mannschaft eine Standpauke zu halten. Und weil wir in einer S-Bahn saßen, nicht im "Dschungelcamp". Selten habe ich mich vor Menschen so geekelt wie am Montagabend vor Jay Khan und Mathieu Carrière, die sich daran aufgeilten, ihrer Mitkandidatin Sarah Knappik Vorhaltungen zu machen: Egoistisch sei sie, asozial und komplett beratungsresistent. Sarahs Freund will ich zwar auch nicht sein, aber die Selbstgerechtigkeit der beiden Herren, die in einem theatralischen "Verlass uns, Sarah!"-Kniefall Carrières gipfelte, ist noch viel abstoßender als Sarahs unglücklich krawallschachtelig kompensierte Unsicherheit.
Ich bin beileibe kein "Dschungelcamp"-Fan, aber am Montag bin ich hängen geblieben. Wie auch am Dienstag bei den Telefonaten in der S-Bahn. Es ist ein alter, aber zutreffender Vergleich: Wie bei einem Verkehrsunfall konnte ich weder wegsehen noch weghören, war gebannt von dem Schauspiel, das sich mir bot. Früher habe ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen, wenn ich intime und/oder heikle Telefonate zu führen hatte, und auch heute vermeide ich es noch nach Möglichkeit, in der Öffentlichkeit länger als unbedingt nötig zu telefonieren.
Doch um mich herum beobachte ich, dass die Skrupel, das Private öffentlich zu machen, abgenommen haben - und das ist nicht nur das Verdienst von TV-Formaten wie "Big Brother" und "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" Dass ich für kein Geld der Welt ins "Dschungelcamp" gehen würde, hat aber noch einen Grund: Ich hätte Schiss - nicht vor den Kakerlaken, vor den Menschen dort.
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