Kolumne Fernsehen: Der Tag beginnt mit Mussolini
Warum ziehen sich so viele halbwegs gebildete Menschen an Feiertagen den kitschigsten Müll rein, zum Beispiel „Sissi“?
E s bleibt wohl für immer ein Rätsel, warum Menschen der Meinung sind, ihren paar hundert Freunden bei Facebook mitteilen zu müssen, was sie gerade im Fernsehen schauen. Genauso wie es ungelöst bleiben wird, wie meine Freunde darauf kommen, ihren Standort preiszugeben.
An Feiertagen ist es besonders schlimm. Die Leute reisen, und wenn sie angekommen sind – natürlich inklusive auf der Fahrt abgesetztem Kommentar über die Bahn („Wieder geänderte Wagenreihung. Ich könnt kotzen. Schlimmer kann es nicht mehr werden.“ – Mutti und 17 anderen gefällt das) –, haben sie Zeit fürs Fernsehen. So verkündete eine (natürlich ganz liebe) Freundin von mir: „Sissis Liebreiz verzaubert jedes Jahr auf’s neue ...“ Darüber ein Foto ihres Fernsehers und darunter Kommentare à la „Ich schau es auch ;)“. Der Smiley zeigt die Ironie und so.
Warum ziehen sich so viele halbwegs gebildete Menschen an Feiertagen den kitschigsten Müll rein? „Sissi“? „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“? „Dinner for One“? Weihnachts- und Silvesteransprache von den beiden Chefs von uns allen?
Gut, dass Phoenix kurz nach der Jahrtausendwende damit angefangen hat, einen neuen Fernsehbrauch an nahezu allen Feiertagen zu etablieren: „100 Jahre – Der Countdown“. Das ist das Programm für den Weihnachtsgeplagten, der sich irgendwie Richtung Silvester schleppt.
Aufwachen, Fernseher an, „I have a dream“, „Wollt ihr den totalen Krieg?“, „Wir wählen die Freiheit“, dann stürzt die Kamera durch das Loch der pixeligen Neun auf die Erde und „Mussolinis Marsch auf Rom“ beginnt. Es folgen „Der schwarze Freitag“ von 1929, „Hitlers Machterschleichung“ 1933 und „Maos langer Marsch“. Dann gibt’s Frühstück, vielleicht ein bisschen aufräumen, sauber machen (sich selbst und die Wohnung) und dann zurück aufs Sofa zur Heimkehr der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion 1955.
ist Medienredakteur der taz.
Von 9 Uhr morgens bis kurz nach Mitternacht zeigt Phoenix irgendwann an Ostern und zwischen den Jahren die 100 Schnipsel aus den Jahren 1900 bis 1999. Das Problem: Wer schafft es schon so früh morgens vor den Fernseher? Mir fehlt deshalb das erste Jahrzehnt. Programmchef Michael Hirz hat es schon einmal versucht, mir mit einer Auflösung der Chronologie entgegenzukommen: erst 1950, am Nachmittag das Ende des Jahrhunderts und dann wieder nach 1900 springen. Doch ich hab es damals wieder erst zum 1. Weltkrieg geschafft.
Mein Weihnachtswunsch für das kommende Jahr ist übrigens folgender: Guido Knopp soll seinen baldigen Ruhestand nutzen, um aus 100 Jahren endlich 110 Jahre zu machen. Der 11. September, Krieg im Irak, Gerd Schröders Vertrauensfrage, die Bankenkrise – Stoff ist doch genug da. Wichtig ist, dass der anachronistische Vorspann bleibt, denn „100 Jahre“ verzaubert halt jedes Jahr aufs Neue.
Epilog: Ich bin mir meiner Schizophrenie bewusst, mich hier über Facebook-Meldungen zum Fernsehkonsum zu beschweren und an gleicher Stelle selbst ständig mitzuteilen, was ich gucke.
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