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Kolumne Einen Versuch legenSchizophrenie mit System

Welche Rolle soll der Spitzensportler in den Medien einnehmen. Kritisch oder doch lieber angepasst sein?

Ich weiß nicht, ob es den mündigen Athleten überhaupt gibt. Wenn man bei Wikipedia hereinschaut, findet man Folgendes: "Der Begriff Mündigkeit beschreibt das innere und äußere Vermögen zur Selbstbestimmung. Mündigkeit ist ein Zustand der Unabhängigkeit. Mündigkeit besagt, dass man für sich selbst sprechen kann."

Das klingt theoretisch gut. Aber was bleibt davon in der Praxis übrig? Nach längerem Überlegen bin ich zum Schluss gekommen, dass nicht einmal ich als mündig gelten kann, da ich weit davon entfernt bin, unabhängig zu sein. Ich bin abhängig von einem Fachverband, einem Dachverband, einem internationalen Verband, hin und wieder auch vom IOC. Schon Kant wusste, "dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit für sehr gefährlich halte".

Dem Athleten, der am Ende einer Verwertungskette steht, bleibt oft nichts anderes übrig, als sich die Brösel, die vom Tisch der Vormünder fallen, zusammenzukratzen und dankbar zu sein, doch noch etwas abbekommen zu haben vom großen Kuchen.

Sportliche Höchstleistungen sind in unserer Gesellschaft nichts anderes mehr als ein Produkt, das vermarktet werden will. Aber das ist gar nicht so einfach. In der Sportberichterstattung sind Boulevardthemen immer wichtiger. Es ist interessanter, wer mit wem und wann, als die Tatsache, wie schnell, weit und hoch die Sportler kommen.

Athleten haben es schwer, ihre Position zu finden und diese auch klar zu vertreten. Sie haben die Möglichkeit, an speziellen Medientrainings teilzunehmen, um zu lernen, wie man lästigen Fragen von Reportern aus dem Weg geht. Zum eigenen Schutz sollte man als Sportler in einer Diskussion die Allgemeinplätze nicht verlassen - heißt es dort. Das haben Sportler und Politiker gemeinsam.

Viele der Sportler fangen mit zehn Jahren oder schon früher an, Sport zu treiben. Leistungssport erfordert intensives Training, bei dem kaum Zeit bleibt für andere Dinge. Früh wird man Teil eines Systems, das sich hinter einer Fassade zum kommerziellen Betrieb entwickelt hat. Da lernt man schnell, dass man als Athlet austauschbar ist. Es geht vor allem um die Finanzierung des Sports, die Verteilung von knappen staatlichen Ressourcen, Startplätzen, von Medaillen und Erfolgen. Wie soll sich in dieser Welt ein blutjunger Athlet positionieren?

Verkörpert er doch in erster Linie immer noch die Ideale, zielstrebig und fair seinen Weg zu gehen. Da ist es schon fast anrüchig, Geld zu erwarten oder gar zu fordern. Denn gerade der Sport soll ja mit gutem Beispiel vorangehen und nicht nur dem schnöden Mammon verfallen sein.

Dass ein Sportler nicht allein in Askese leben kann, das verdrängt die Öffentlichkeit gerne. Ich habe sehr viel Prügel einstecken müssen, als ich 2004 laut äußerte, dass meine Medaille und ich ein höchst schizophrenes Verhältnis haben. Die Medaille war ein ideeller Wert, auf den ich mehr als zehn Jahre hingearbeitet hatte. Aber diese Medaille ernährte mich nicht, sie deckte mich nicht zu, sie bezahlte nicht meine Miete, und sie war meinem Fortkommen im Studium nicht dienlich. Außerdem hatte ich nach Jahren, in denen ich in der sozialen Versenkung einer Trainingshalle verschwunden war, so ziemlich alle meine Freunde verloren. Meist waren sie einfach "unbekannt verzogen".

Es gilt es ketzerisch, einen ideellen Wert mit Geld aufwiegen zu wollen, solange man ein edler Athlet ist. Da hat es das IOC schon einfacher. Denn sie sind Hüter und Vormund einer Idee, die sie Schritt für Schritt und ganz legal kommerzialisiert und vermarktet haben. Schließlich wollen Olympische Spiele ja auch bezahlt sein, und die Gefahr, dass der Geist eines alten Griechen oder gar der von Pierre de Coubertin durch das Stadion geistert und ruft "So habe wir uns das nicht vorgestellt", diese Gefahr tendiert ja gegen null.

Und während Funktionäre, Firmen und Organisationen mit der olympischen Idee massiv Geld verdienen, kann ich jede Menge Sportler aufzählen, die sich mit Nebenjobs über Wasser halten müssen. Hin und wieder schafft man es auch, einen Sponsor zu finden, aber dabei ist Gefälligkeit, Wohlverhalten und Mediengängigkeit oberste Athletenpflicht.

Wer kann es unter diesen Prämissen Leistungssportlern verdenken, dass sie lieber ihren Mund halten, um einigermaßen abgesichert zu sein. Denn wenn sie den Mund aufmachen, laufen sie Gefahr, abgestraft zu werden und in der Versenkung zu verschwinden

Ich bin vergangene Woche gefragt worden, warum ich ein wenig anders bin und den Mund aufmache. Die Antwort fällt mir nicht leicht. Entscheidend war wohl, dass ich einen guten Trainer hatte, der nicht nur darauf bedacht war, dass ich als Athlet meinen Job mache, sondern dass ich mich auch als Mensch und Persönlichkeit entwickle. Ein guter Fechter muss sich ja durchsetzen können. Er muss sich behaupten, logische Verbindungen herstellen und in der Lage sein, ein bestehendes System auch kreativ zu umgehen. Das sind im Übrigen auch durchaus Tugenden, die einer Funktionärskarriere zuträglich sind. Im Rahmen meiner Möglichkeiten praktiziere ich das heute als "Non-Profit One Woman Show".

Ich habe früh gelernt, intellektuell unabhängig zu sein. Ich könnte jederzeit einen Schnitt machen und sagen: "Es reicht mir im Sport und ich mach was anderes. Ich habe ein Leben außerhalb einer Sporthalle." Ich bin jetzt 33, sehr erfahren, etwas unbequem, und ich finde, das ist auch gut so. Wenn ich auch nicht die Antwort auf alle Fragen habe, ich erlaube mir den Luxus, Fragen zu stellen.

Dass es zu atmosphärischen Spannungen zwischen mir und den Sportfunktionären kommt, halte ich für gesund, denn es treibt überfällige Diskussionen voran. Wer möchte schon gerne in einer Führungsposition des Sports zugeben, dass auch er nicht der Hüter allen Wissens ist und eine Athletin der "fürsorglichen" Kontrolle des Vormunds entwachsen ist.

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