Kolumne Die eine Frage: Die Kampfansage
Wanzen die Grünen sich an die CDU heran oder fordern sie sie heraus? Richtig ist jedenfalls, das man Politik aus dem Kanzleramt heraus anstreben sollte.
S ind jetzt bestimmte Parteien und eine gesellschaftliche Mehrheit bereit für die Realität der Gegenwart? Das treibt mich um. Das soll nicht abgehoben klingen, sondern geht von einem Gedanken Hans Ulrich Gumbrechts aus, dass wir alle in einer gefühlten Gegenwart leben, die längst Vergangenheit ist. Das war schon bei Rot-Grün so, als wir nationalfixierte Stubenhocker nicht checkten, was längst in der Welt ablief und zu lange dachten, Hartz IV sei das planetarische Problem. Der Abstand wurde noch größer durch die Schaumgummi-Mauer aus vernünftigem Sprechen und Nicht-Handeln(-Können), mit der Merkel uns vor der Gegenwart schützte. Bis 2015.
Seither spüren zunehmend Leute, dass es so nicht mehr lange gut geht. Das ist der Grund für den Bedarf an autoritären und nationalistischen Angeboten. Schutz vor der Welt durch Rückzug, rechts wie links. In Berlin-Kreuzberg verteidigen sie einen Aldi gegen böse Biolandwirtschaft. Die Rest-SPD sucht ihre Zukunft im vorglobalisierten Industriezeitalter. Und der Bedarf an All-Gendertoiletten ist eindeutig kleiner als der Bedarf von Unions-Leuten, das zu instrumentalisieren, um Leute abzulenken.
Meine Hoffnung ist: Das derzeitige Dauergepupse nervt viele und bricht dabei das starre Denken auf, das auf einer heilen Welt im gemütlichen westdeutschen halblinks-halbrechts-Schema fixiert ist. Wie die Fridays for Future-Protagonistin Luisa Neubauer, 22, sagt: Es interessiert die Erderhitzung nicht, ob ökologische Zukunftspolitik liberal oder sozialdemokratisch genannt wird. Der Unterschied besteht ganz einfach darin, sie zu machen.
Wenn man den an diesem Wochenende vorgestellten „Zwischenbericht“ zum vierten Grundsatzprogramm der Grünen mit diesem Ansatz liest, dann sind bei allem internen Wellness-Faktor und Beteiligungstralala radikale Befunde zu machen. Es geht den Grünen im Zeitalter von Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht mehr darum, den Abstand zu ihren Idealen gering und zu Andersdenkenden groß zu halten, sondern den Abstand zu einer gesamtgesellschaftlichen Zukunft zu verringern. „Wir“ sind nicht Grüne und Eisbären, sondern meint normale Menschen.
Die neue Mehrheitsgesellschaft auf der Suche nach einer politischen Vereinbarung für eine gemeinsame postfossile und europäische Zukunft. Und dann brechen die Grünen noch mit einem anachronistischen Denken, das ihre Gründergeneration – historisch verständlich – geprägt hat: Nicht das Private, sondern das Politische ist politisch. Schluss mit dem Moralisieren und Privatisieren: Wer die Erderhitzung bewältigen will, der braucht nicht fünf Prozent Superhumans, sondern 100 Prozent der Menschen, die emissionsfrei wirtschaften und leben. Und das geht nur mit ökologischer Modernisierung durch unternehmerische Innovation und Ordopolitik. Dafür braucht es eine demokratische Mehrheit.
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Politik aus dem Kanzleramt anstreben
In dem Papier versprechen die Grünen im Habeck-Sound, aus dem „Zentrum der politischen Auseinandersetzung“ heraus, diese Mehrheit zu organisieren. „Bündnispartei“ ist der strategische Begriff, der einerseits den Osten historisch wertschätzen soll („Bündnis 90“: Veteranen könnten sich erinnern), aber vor allem die „Bündnisfähigkeit als dauerhaften Auftrag“ manifestieren. Übersetzung: Wir wollen die zentrale europäische und sozialökologische Kraft jeder Regierung im neuen Zeitalter nach dem halblinks-halbrechts werden, das SPD und Union repräsentierten. Wer jetzt denkt, das alles sei eine Kampfansage an die SPD und ein Ranwanzen an die Union? Weit gefehlt.
Ich lese das als Kampfansage an die CDU um die Führung.
Was auch sonst? Wenn man die Lage realistisch betrachtet, dann muss man Politik aus dem Kanzleramt heraus anstreben. Alles andere hieße, die Welt und auch sich selbst, weiterhin nicht ernst zu nehmen.
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