Kolumne Die eine Frage: Was ist Heimat?

Als der Sarg sich senkt, spüren die Schwaben im Dorf: Es geht mehr zu Ende als ein Menschenleben. Es ist das Ende einer Epoche.

Im Licht der Morgensonne ein Baum

Im Licht der Morgensonne ist schemenhaft ein Baum zu erkennen. Ist das Heimat, die verschwindet? Foto: dpa

Wenn sie in meinem schwäbischen Dorf vom Spazierengehen kommen, dann sagen die Alteingesessenen: „Also, man kennt die Leut ja gar nicht mehr.“

Man kennt sie nicht und läuft dann wortlos aneinander vorbei. Wie in der Stadt. Bei dem Gedanken schütteln sie die Köpfe. So was. Sind das Russlanddeutsche aus der Neubausiedlung? Oder vielleicht sogar Flüchtlinge. Man weiß es nicht, heutzutage.

Zwar ist es schon so, dass das alte Dorf sich häufig trifft. Aber sobald der Sarg sich in das frische Loch gesenkt hat, ist man wieder einer weniger. Wenn sie den Friedhof dann mit schnellem Humpelschritt verlassen, den Satz des Pfarrers aus dem Ohr schütteln, dass man besonders für den Nächsten aus ihrer Mitte bete, der dem Verstorbenen vor das Antlitz Gottes nachfolge, so können sie das vielleicht nicht formulieren. Aber in dem Moment spüren es alle: Es geht mehr zu Ende als ein Menschenleben. Es ist das Ende einer Epoche. Ihrer Epoche.

Jetzt schon?

Sie haben doch grad erst anfangen, die meisten selbst als Kriegsflüchtlinge hier gestrandet und einquartiert. Da ist die Straße noch nicht geteert und die Dorfmitte ist voller Bauernhöfe. Sie haben dann ihre Neubausiedlung gebaut, mit den eigenen Händen, Zweifamilienhaus neben Zweifamilienhaus. Die Dreizimmerwohnung unten für sich selbst, die Dreizimmerwohnung oben erst mal vermietet oder für die Mutter, später für die Kinder, bis die ihr eigenes Haus bauen.

Die Männer sind alle in die eine Fabrik, die Bauern bald auch. Und die Frauen sind irgendwann alle in die andere Fabrik. Halbtags. Um zwölf holen sie die Kinder vom Kindergarten ab. Die Männer sind in den Gesangverein. Die Frauen sind in den Kirchenchor.

Des isch halt so

Dann sitzt das erste Paar in der Sonntagsmesse zusammen in der Kirchenbank und nicht wie sich das gehört, also die Männer rechts und die Frauen links. Das ist vielleicht ein Skandal. Kein Skandal ist dagegen, dass der Herr Pfarrer den Kindern im Religionsunterricht auf d’ Gosch haut, dass es kracht. Wer sich beklagt, kriegt zu Hause gleich noch eine rein. Warum? Des isch halt so.

Eines Tages rufen irgendwelche durchgeknallten Kerle vom Gymnasium im Amtlichen Mitteilungsblatt zur Wahl der Grünen auf. Ja, ist die Welt verrückt geworden? Wir haben doch schon eine Partei. Die Irren werden sofort aus dem Sportverein ausgeschlossen.

Wer eine linke Alternative für Deutschland will, muss auf ein rot-rot-grünes Bündnis setzen. Aber können sich SPD, Linke und Grüne im Bund überhaupt auf ein Projekt einigen? Das große Streitgespräch mit Katarina Barley, Sahra Wagenknecht und Cem Özdemir lesen Sie in der taz.am wochenende vom 3./4. Dezember 2016. Außerdem: eine Sachkunde zu Donald Trumps Traum von einer Mauer zwischen den USA und Mexiko. Und: Wie Daten Politik machen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Irgendwann werden die Kinder nicht mehr geschlagen, Paare ziehen zusammen, obwohl sie nicht verheiratet sind, in der Kirche wird der Leib Christi von Kommunionshelfern verteilt, die einen sitzen, wo sie wollen, die anderen kommen gar nicht mehr. Dann stellt sich der allerfrömmste Kommunionshelfer auch noch offiziell als schwul raus, aber darauf kommt’s auch nicht mehr an. Außerdem war das ja eh klar.

Die Fabrik macht ein zweites Werk im Osten auf, dann ein drittes noch weiter hinten. Früher ist jeder untergekommen, selbst wenn er nach der sechsten Klasse Hauptschule abgeht. Jetzt gibt es sogar Arbeitslose. Und der Kindergarten hat Dienstag und Donnerstag durchgehend bis 16 Uhr geöffnet. Dafür gibt’s keinen Bäcker mehr und keinen Metzger. Eine Wirtschaft hat auch fast keine mehr auf. Und ständig kommt jemand daher und sagt, sie sei jetzt „Vegetarierin“.

Was will man machen? Jetzt isch’s nemme so, jetzt isch’s halt anders, sagen sie.

Aber manchmal wird’s halt doch ein bisschen viel. Man kennt sich gar nemme aus. Sie fragen: Wo sind denn da wir noch? In dem Moment fangen auch noch – mitten am Tag – die Kirchenglocken an zu läuten. Schon wieder einer weniger.

Und da denken sie: Also, wenn wir unseren Ministerpräsidenten nicht hätten, dann könnte man fast Angst kriegen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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