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Kolumne Die eine FrageDanke, Jogi

Peter Unfried
Kolumne
von Peter Unfried

Hat Löw mit der Niederlage im EM-Halbfinale die Transformation des deutschen Fußballs vollendet? Über die Umkehrung des Wankdorf-Fluches.

Sechsmal Halbfinale ist kein Zufall. Das ist Folge von Know-how auf der jeweiligen Höhe der Zeit: Jogi Löw in der Schweiz im EM-Vorbereitungstraining im Juni 2016 Foto: dpa

W enn nicht der Titel gewonnen wird, fallen Bereiche der deutschen Fußballdiskussion ganz schnell auf ein Niveau, von dem man hoffte, es sei überwunden. Das ist in der politischen Diskussion auch nicht anders, aber trotzdem. Die Vorwürfe der Fußball-Boulevardmedien (Spiegel, FAZ) gegen unseren Bundestrainer sind teilweise so kindisch, dass es quietscht. Psychogramme aus dem Sigmund-Freud-Kindergarten. Fachkritik aus der Waldemar-Hartmann-Akademie.

Joachim Löw habe verpasst, dass man im internationalen Fußball (wieder) mit Mittelstürmer spielt. Ach, echt – und wieso spielte dann Mario Gómez? Es habe aber nach dessen Verletzung ein zweiter Mittelstürmer gefehlt. Richtig, aber wir haben derzeit keinen zweiten. Löw habe dafür zu sorgen, dass wir Deutsche Mittelstürmer produzieren, so wie es unsere Nationaltradition ist. Soll er sie selbst zeugen, das Volk mit der Hand am Gemächt zur konzertierten Aktion „Kinder für den Sturmführer“ anleiten – oder wie stellen wir uns das vor?

Er war unmittelbar nach dem 0:2 gegen Frankreich nicht in der Lage, die Leistung des Gegners so souverän anzuerkennen, wie es ideal wäre. Aber, hey, schon mal andere Verlierer gesehen?

Löws Erfolgsserie der letzten zehn Jahre ist international singulär: Sechsmal in Folge Halbfinale bei WM und EM. Für einen Titel spielt der Zufall im Fußball eine viel größere Rolle, als das Trainer, Spieler und auch Kritiker gerne hätten. So hat Löw vor dem WM-Sieg 2014 glücklich und verdient gegen Frankreich gewonnen. Nun hat er unglücklich verloren. Aber sechsmal Halbfinale kann kein Zufall sein. Das ist die Folge von Know-how auf der jeweiligen Höhe der Zeit.

Man kann sogar sagen, dass Löw seine fundamentale Transformation des deutschen Fußballs noch weiterentwickelt hat. Seit dem einerseits wunderbaren, andererseits fatalen 3:2 gegen die Ungarn im Berner Wankdorfstadion und dem WM-Titel 1954 waren die Deutschen davon ausgegangen, dass es ihre Nationaltugend sei, gegen bessere Fußballer zu gewinnen, weil sie flinker, härter und zäher seien.

Fußball ist keine des Blutes

Ein unfassbarer Unsinn, noch dazu wie die Adaption eines Nazi-Ideals daherkommend. Löw befreite die Fußballgesellschaft von diesem Fluch und bewies, dass ästhetischer Fußball keine Frage des Blutes ist, wie Old Berti noch angenommen hatte („Der Deutsche ist kein Brasilianer“). Sondern eine Frage des Trainers, der das will, fühlt und zur Grundlage einer Stilcollage macht, mit der man an der Spitze der Moderne agiert, zumindest was Verbandsfußball angeht.

Mit dem besten Fußball ein großes Turnier zu verlieren, ist die letzte Tragödie, die ein unaufgeklärtes Teilpublikum wirklich durchschüttelt.

Der bessere moderne, variantenreiche Fußball gewinnt, und das mit ästhetischer Begründung – das ist die Bedeutung von Löws WM-Sieg. Aber mit dem besten Fußball zu gewinnen ist ja leicht wie eine Hollywoodkomödie. Mit dem besten Fußball ein großes Turnier zu verlieren ist die letzte Tragödie, die ein unaufgeklärtes Teil­publikum wirklich durchschüttelt und in einer existenziellen Ratlosigkeit und auch Wut zurücklässt, dass es die Begrenztheit des menschlichen Einflusses auf das Geschehen verdrängt und eine erfolgreiche EM als Untergang missversteht, für den die Hybris eines gescheiterten Helden verantwortlich sein muss.

Doch von einem Scheitern des Jogi kann keine Rede sein. Wir haben die Vollendung der Transformation des deutschen Fußballs erlebt. So wie 1954 die Ungarn, 1974 die Holländer und 1982 die Franzosen hat nun Deutschland den besten Fußball gespielt. Und verloren. Das ist die wahre Umkehrung des Wankdorf-Fluches. Jetzt sind wir frei.

Und der Witz an der Sache ist: Wir können es uns wirklich leisten.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried