Kolumne Die eine Frage: Der schwarze Samstag
Nächste Woche wird Udo Jürgens 80 Jahre alt. Darf man Udo-Jürgens-Lieder singen? Wenn eine Party in Berlin-Kreuzberg eskaliert.
L ange sieht es aus, als handele es sich um eine total korrekte Party. Schöne Wohnung in bester Berliner Lage, ich schätz mal sechs, sieben Zimmer. Mindestens. Rioja, Tannenzäpfle, Buffet halb vegan, halb Spanferkel, also optimal für die ganzen Vegan-Flexitarier. Und die Gespräche: nur vom Feinsten. Immer kritisch und differenziert. Zum Beispiel wird abwechselnd der Moralüberschuss beziehungsweise der Moralverlust der Grünen angeprangert.
Beim Beklagen des Auseinanderdriftens der Gesellschaft gibt es selbstverständlich keine zwei Meinungen. Einhelliger Tenor: Das geht so nicht. Ebenso eindeutig die Enttäuschung über Obama. Uneinigkeit darüber, ob es auch ihm letztlich an Moral fehlt oder ob er die Komplexität der amerikanischen Politik schlicht unterschätzt hat. Uneinigkeit auch darüber, ob man heutzutage „amerikanisch“ sagen darf oder ob man gerade heute auf „US-amerikanisch“ bestehen muss, um nicht doch noch zum Paladin des US-amerikanischen Kulturimperialismus zu werden.
Diskussion über die historische Leistung von Guardiola. Fachliche Revolution eines wichtigen Kulturbereichs hier, Tikitaka-Kacke dort. Aber immerhin ein echter Katalane. Satte Merkel-Mehrheit für: „House of Cards“ muss man gesehen haben, aber Netflix ist wohl doch nicht so toll.
Dann mehr und mehr Einstimmigkeit. Verbote gehören verboten. Rollkoffer auch. Massentierhaltung schlimm, aber dieses Spanferkel köstlich. Alle Parteien schlimm. AfD superschlimm. Trotzdem gut, dass die FDP weg ist. Obwohl.
Schließlich Blaulichtstimmung. Menschenrechte sind in Gefahr. Und zwar unsere. Unfassbar, wie diese Massen blöder Touristen uns unser Kreuzberg wegnehmen wollen. Vor allem die Schwaben. Man hört ja nur noch Spanisch und Schwäbisch. Da müssen die Grünen unbedingt was machen.
Kinder und Karriere lassen sich einfach nicht vereinbaren, klagen zusehends mehr Mittelschichtseltern. Und es geht doch. Alles eine Frage der Verhandlung. Den Beweis finden Sie in der taz.am wochenende vom 27./28. September 2014. Außerdem: Wir könnten alle in Grand Hotels leben, wirklich. Ein Visionär rechnet das vor. Und: Warum das zweite Album von Kraftklub doch nicht scheiße ist. Ein Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Und Airbnb ist die größte Schweinerei. Sozial ist das verheerend, da wird der Gesellschaft Wohnraum entzogen. Unser Treppenhaus sieht aus wie Sau.
„Ich war noch niemals in New York“
Also, entweder die Einreise von Touristen oder zumindest Schwaben wird kontingentiert, oder sie werden nach spätestens drei Tagen zurück in ihre Herkunftskäffer verfrachtet. Während des Aufenthalts haben diese Blödis sich jeden Tag bei der Kreuzberger Bürgermeisterin zu melden und sich an strenge Benimmregeln zu halten (Kiffen, Verwendung des Binnen-I, Transgenderquote). Sonst brennen hier bald die Rollkoffer.
Wir hatten da ja im Frühjahr so ein Apartment, Upper East Side, total nett. Gehört Jeff. Schwuler Künstler. Schon etwas schmuddelig für unsere Verhältnisse. Aber dem hilft das total, weil Manhattan ist von den Mieten her echt noch mal eine andere Nummer.
Wir überlegen ja jetzt auch.
Ob wir unsere zweite Eigentumswohnung anbieten. Die steht doch sonst nur leer.
Wie ich schon sagte: Alles vom Feinsten. Aber dann. Nach Mitternacht. Legt tatsächlich jemand „Ich war noch niemals in New York“ auf. Udo Jürgens!
Und was machen diese ganzen, tja, Menschen? Sie hören auf, mitfühlend über die Probleme der Welt zu sprechen. Und singen das Lied mit. Auswendig. Da muss ich bei allem Respekt sagen: Scheißegal, ob dieser Mann in der nächsten Woche 80 wird. Aber so etwas geht einfach nicht.
Was für ein schwarzer Samstag für Kreuzberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe