Kolumne Das Schlagloch: Westliche Wartegemeinschaft
Eine Rentenreform in der Antike hat bewirkt, dass uns die Weihnachtsbotschaft erreicht.
Geburtstage sind Privatsache. Ja, es gibt gar keine größere Privatsache als den Geburtstag eines Menschen. Man kann dran denken oder ihn vergessen. Man kann gratulieren oder nicht. Man kann hingehen oder nicht. Das ist Freiheit. Und heute?
Selbst wer nicht dran denken will, kann diesen einen Geburtstag vor rund 2007 Jahren nicht vergessen. Bei drei Wochen Vorbereitungszeit! Wer nicht hingehen will, muss schon bis ans Ende der Welt fahren, und selbst da wird er erwartet. Von Weihnachten. Das ist in Ordnung, meinen viele, denn irgendwer muss die Welt zurück in die Angeln heben. Das Geburtstagskind hat schon immer gewusst, dass Kamele durch Nadelöhre gehen, aber nicht Hartmut Mehdorn.
Jesus wusste auch, was gerecht ist. Oder war das nur "gefühlte Gerechtigkeit"? Was hätte der Messias zu John Rawls gesagt? Rawls ist dieser Gerechtigkeitstheoretiker, der behauptet hat, dass die Ungerechtigkeit gerecht ist, wenn alle die gleichen Chancen haben. Er hat das nur anders formuliert. Ich glaube, wir müssen etwas aufklären. Auch Weihnachten selbst.
Denn ohne eine handfeste Ungerechtigkeit, ohne eine ganz dramatische Rentenreform vor über 1960 Jahren, hätte uns die Weihnachtsbotschaft nie erreicht. Weihnachten scheint ein guter Termin zu sein, endlich ein paar Tage lang nicht mehr an die Politik denken zu müssen. Aber so versteht man das Fest nicht. Alles ist Politik. Da hatten sie schon recht, die Achtundsechziger, die Jubilare des nächsten Jahres. Die wirklichen Probleme bleiben stets gleich: Verteilungs- oder Chancengerechtigkeit und Altersvorsorge. Das Folgende ist auch eine Weihnachtsgeschichte und ihre These lautet: Ohne die Habgier hätten wir nie erfahren, dass Jesus gesagt hat, dass wir nicht habgierig sein sollen.
Die Botschaft des heutigen Tages, Maria mit dem Kind auf dem Arm, ist nur ein Sekundärsymbol des Christentums geworden. Das Hauptsymbol ist Jesus am Kreuz. Jesu ursprüngliche Anhänger hätten dieses Symbol nicht verstanden. So wenig wie sie diesen Tod verstanden haben.
Denn ein Messias, der sich kreuzigen lässt, ist kein Messias. Das sagte ihnen der gesunde religiöse Menschenverstand, das wusste die gesamte spätantike Welt. Und sie wusste auch, dass die Kreuzigung eine besonders schmähliche Todesart war, durch die man entlaufene Sklaven zu Tode brachte. Von Heiden ausgeführt, war sie noch schrecklicher. Vorerst taten die Anhänger Jesu, was die Anhänger fast aller Religionen zu allen Zeiten machen: Sie wandten sich ab von dem besiegten Gott und dessen lächerlichen Stellvertreter. Sie verließen Jerusalem. Außerdem hätten sie die Nächsten sein können am Kreuz.
Die ersten Christen glaubten anders als die späteren. Genau wie das heutige Geburtstagskind. Jesus glaubte vor allem, dass die Tage der Welt gezählt sind und das Reich Gottes in jedem Augenblick kommen muss. Hätte er sonst brave Töchter und Söhne aufgefordert, ihre Eltern zu verlassen? Hätte er sonst sogar Huren vom Wegrand weg rehabilitiert? Das war nicht so sehr eine neue Moral, das war eine Zeitwahrnehmung. Für das Kind, dessen Lebensfest wir heute feiern, galten keine Lebensmaßstäbe, sondern Todesmaßstäbe. Endzeitmaßstäbe.
Das war nichts Besonders in Vorderasien. Solche Wanderprediger wie diesen Jesus aus Nazareth gab es massenhaft. Vielleicht hatten selbst die Römer schon deshalb manchmal bereut, nicht zu Hause geblieben zu sein. Die Römer würden ohnehin viel besser zu uns passen. Die besaßen noch andere Götter. Werktätige Götter. Götter, wie sie zu einer fleißigen, diesseitsorientierten, genussfreudigen, konsumorientierten Volkswirtschaft passen. Jeder Gott, jede Göttin hatte ein festes Arbeitsgebiet: die Jagd, die Landwirtschaft, die Fruchtbarkeit etc.
Den römischen wie schon vorher den griechischen Göttern wäre niemals eingefallen, Umkehr zu predigen und zu sagen, alles auf Erden sei eitel. Natürlich hätten sie auch niemals dazu aufgerufen, mit den anderen zu teilen. Verteilungsgerechtigkeit? Klingt das nicht immer nach der Gerechtigkeit der Faulen am Ende aller Tage? Wahrscheinlich hätten auch die Römer unsere westliche Welt viel besser verstanden als manche ihrer eroberten Provinzen. Globalisierung - das war doch ihre Idee! Natürlich hat das immer mit Eroberung, mit Inbesitznahme, mit Nivellierung zu tun; man muss ja nicht gleich mit dem Streitwagen eintreffen. Jesus wäre entsetzt, käme er heute zu seiner globalen Geburtstagsfeier. Jeder römische Gott dagegen würde sich verstanden fühlen.
Aber zurück nach Palästina. Immer mehr geflohene Anhänger Jesu kamen nachschauen, ob Jesus immer noch weg war. Wenn an diesem unmöglichen Messias doch etwas dran sein sollte, dann kommt er sofort zurück und bringt das Reich Gottes gleich mit. Wo aber würde er den Erdboden betreten? Natürlich dort, wo er ihn verlassen hat. Es entstand eine Wartegemeinde, die man später das Christentum nennen würde.
Wartegemeinschaften sind naturgemäß keine produktiven Gemeinschaften, wohl aber Schicksalsgemeinschaften. Also gab einer dem anderen, was er hatte. Lauter Quasi-Kommunisten teilten alle Güter, weil das Ende aller Tage ohnehin bevorstand und es sich gar nicht lohnte, etwas aufzuheben. Woraus wir lernen: Kommunismus entsteht immer dann, wenn sowieso alles zu spät ist. Selbstverständlich gab es auch damals schon Realisten, die etwas beiseitelegten für den Fall, dass Jesus sich verspäten würde. Das machte er. Die ersten Wartenden starben und hinterließen ihre Frauen. Und er war immer noch nicht da.
Und nun passierte die Rentenform. Wir sind hier in Palästina, also bekam eine hebräische Witwe mehr als eine griechische Witwe. So ungefähr müssen die Ökonomen der Urgemeinde gedacht haben, was zur großen Empörung der Griechen führte. Seit wann gibt es Witwen erster und zweiter Klasse? War es irgendwie einzusehen, dass die Witwen der griechischen Naherwarter weniger Altersbezüge bekamen als die Witwen der hebräischen Naherwarter? Auf Verteilungsgerechtigkeit konnten die Griechen nicht länger zählen. Also wählten sie die Chancengerechtigkeit und verließen Jerusalem.
Da sie schon einmal unterwegs waren, konnten sie ja unterwegs allen mitteilen, dass da einer kommen würde. Natürlich wäre das undenkbar gewesen ohne die Infrastruktur des Römischen Reiches. Ohne Roms Straßen keine Apostel! Eine gewisse neue Empfänglichkeit für die Botschaft aus Jerusalem war irgendwann selbst in der römischen Kernwelt zu beobachten. Das geschieht immer dann, wenn das Diesseits ungewisser wird. Wenn die Mehrheit nicht mehr an die Gerechtigkeit auf Erden glaubt. Oder in Deutschland. So wie dieses Jahr erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik.
Da wird einer kommen, sagten die Jerusalemer Rentenflüchtlinge. Nicht sofort. Aber bald. Oder etwas später. Das Christentum hat das Warten so revolutioniert, dass es gar nicht mehr merkt, dass es wartet. Und aus der Enttäuschung über Jesu Ausbleiben ist Freude über seine Ankunft auf Erden geworden. Alle Jahre wieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles