Kolumne Das Schlagloch: Staatsbürger ohne Uniform
Anstatt der Wehrpflicht ein soziales Jahr für alle: Warum hat diese Idee keine Lobby? Für viele junge Menschen wäre ein solcher Sozialdienst eine Wohltat.
S ept cents millions de chinois / Et moi, et moi, et moi" - "700 Millionen Chinesen und ich und ich und ich". Blecke stand auf dem Kantinentisch und versuchte, auf Französisch zu singen. Dabei überschlug sich seine Stimme, aber er spielte hinreißend Waschbrett. Blecke kam von der Welt, Peters, der Gitarrist, war Mechaniker aus Krefeld. Volker, der mit den Löffeln klapperte, kam aus Bohmte.
Wir waren Panzergrenadiere im Europa-Manöver, La Courtine im Massif Central l966. Die Kasernen stammten aus der Zeit Napoleons III., das Gewölbe verstärkte den Klang unserer Skiffle-Band. Gelegentlich konnte die klassenübergreifende Zwangsgemeinschaft ja ganz lustig sein. Aber nach einem Jahr Wehrdienst hatten alle die Nase voll vom Rumhängen oder ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht verweigert hatten.
Inzwischen sind wir eine welthistorische Epoche weiter. Die Zahl der Chinesen hat sich verdoppelt, aber die rote Gefahr ist verblichen. Heute bedrohen uns Dinge, von denen man damals nicht einmal den Namen kannte. Und einundzwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges denkt ein Verteidigungsminister laut über die Abschaffung der Wehrpflicht nach. Nicht wegen der "Wehrgerechtigkeit", der Waffentechnologie oder des veränderten Auftrags der Armee (Handelsfreiheit!) - darüber redete und stolperte nur Köhler. Sondern einzig und allein wegen der Finanznot. Und deshalb mit Aussicht auf Erfolg.
lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Wochenpost. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über unser Gesundheitswesen, in dem "Public Health" immer noch ein Fremdwort und ein vernachlässigtes Modul im Medizinstudium ist.
Die Rekrutenarmee ist aber immer noch eine heilige Kuh, weswegen die Spezialisten der SPD sich zum Oxymoron einer "freiwilligen Wehrpflicht" versteigen. Volker Kauder sieht die einzige Institution bedroht, die anspruchsgetriebene Bürger verpflichte, "dem Staat etwas zurückzugeben". Ministerin Schröder fürchtet um den Zivildienst, "ohne den unsere Gesellschaft weniger menschlich" wäre. Offenbar kann auch sie sich einen Sozialdienst nur als "Ersatz" vorstellen. FDP, Grüne und Linke sind für Abschaffung pur, aus gemischten Motiven. Allein der saarländische SPD-Chef Heiko Maas plädiert für ein obligatorisches soziales Jahr.
Ich frage mich seit zwei Jahrzehnten, warum diese Idee keine Lobby hat. Politiker und Feuilletons rufen nach Zusammenhalt und zivilgesellschaftlichen Werten, weil Gesundheit, Kinderaufzucht, Altenpflege, kommunale Einrichtungen in den Strukturen des fossilen Kapitalismus nicht mehr vom Staat sichergestellt werden können. Was ist also so peinigend an dem Gedanken, junge Männer und Frauen müssten nach der Schule ein Jahr lang Gemeinwesenarbeit leisten?
Eine Wohltat für Jugendliche
Ich glaube, für viele Jugendliche, die ohne feste Idee und unberaten in die erstbeste Lehre gehen, sich für einen Bindestrich-Studiengang einschreiben, in der Warteschleife bei McDonalds jobben oder sich von australischen Farmern ausbeuten lassen, bevor sie, wenns gut geht, ins vierzigjährige Hamsterrad tauchen, wäre ein solcher Sozialdienst eine Wohltat. Je nach Begabung und Präferenz könnten sie Hauptschülern beim Schreiben- oder Schwimmenlernen helfen, die digitale Alphabetisierung alternder Mitbürger betreiben, als Urlaubshilfe bei Milchbauern im Allgäu leben, kommunale Gärten anlegen, in Kitas kochen oder spielen, die Öffnungszeiten von Bädern, Bibliotheken und Museen ausweiten, Einkaufsfahrten für unmotorisierte Landbewohner machen, im Inland oder gar anderswo in Europa.
Gut, da wären auch weniger attraktive, aber notwendige Tätigkeiten zu vergeben wie Rollstuhlschieben oder Windelnwechseln - aber bei all dem könnten sie praktische Fähigkeiten erwerben, Selbstbewusstsein entwickeln, ihren Lebensplan überdenken oder finden. Sie könnten Jahr für Jahr den öffentlichen Reichtum dieser Gesellschaft mehren und darüber ein Bewusstsein und ein Gefühl dafür entwickeln, was es heißt, Bürger zu sein.
Das Wirtschaftswachstum, das uns erlaubte, Tätigkeiten, die vordem der Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde oblagen, zu professionalisieren und zu monetarisieren, wird kaum wiederkehren. Der Qualität dieser "Dienstleistungen" bekam das ohnehin nicht immer, weshalb Konservative sie schon immer der Familie, der Gruppe, der Gemeinde zurückgeben wollten. In den Strukturen des Besitzindividualismus aber würde das heute die Ungleichheit vertiefen; ein Sozialdienst wäre eine wirksamere, sozialere Wende. Die Vorstellung, dass 800.000 Jugendliche in einem solchen Pflichtjahr ein "Wir sind Deutschland"-Gefühl entwickeln könnten, das sie zu aktiveren und unbequemeren Staatsbürgern ohne Uniform machte - vielleicht ist die Furcht davor ein stärkerer Hinderungsgrund als der Mangel an Neugier, Betätigungslust und unverbrauchten Solidaritätsgefühlen.
Finanziert durch Bürgersteuer
Sinn machte so etwas freilich nur, wenn es attraktiv und qualifizierend organisiert wird - ob nun als "letztes Schuljahr" oder von kreativen Kommunalverwaltungen, die am ehesten wissen (sollten), wo die sozialen Schuhe drücken. Bleibt die Kostenfrage. Nehmen wir an, die jungen Menschen erhielten 1.000 Euro pro Monat für Arbeit und Unterkunft, und auf jeweils zehn von ihnen käme ein qualifizierter Betreuer (ob nun Handwerker, Sozialarbeiter oder Ingenieur), dann ergibt mein Taschenrechner jährliche Ausgaben von rund 15 Milliarden. Das entspräche einem Prozent der Barvermögen, die im letzten Jahrzehnt entstanden sind, und 0,3 Prozent der Vermögen insgesamt. Das wäre nicht unbillig für eine Bürgersteuer im 21. Jahrhundert; der zivilisatorische Gegenwert könnte enorm sein.
Ach ja, Blecke starb an Krebs und Volker ist Anwalt geworden, die anderen sind mir verloren gegangen. Doch für die Wehrpflicht wird noch immer geworben. Aber ich könnte mir vorstellen, dass eine Gruppe junger Menschen, die verwüstete Panzerschussbahnen im Zentralmassiv aufgeforstet oder mit behinderten Kindern in Dortmund eine Tagesstätte renoviert hat, sich nicht so aus den Augen verliert wie die Skiffleband aus Munsterlager. Sie hätten schließlich etwas Neues in die Welt gesetzt. Und manche sogar etwas, bei dem sie bleiben können.
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