Kolumne Das Schlagloch: Wie das Volk zählt
Die Deutschen werden immer weniger. Ist das nicht eine gute Nachricht, wo die Welt doch immer voller wird?
W as ist Fortschritt, was ist Menschenglück auf Erden? Das progressive 19. Jahrhundert sagte: Es liegt in der größtmöglichen Wohlfahrt der größtmöglichen Zahl. Und ist es, sozialdemokratisch gedacht, nicht sehr schön, dass immer mehr Menschen sich etwa an einem Mai wie diesem freuen können? Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl also. Aber wie viele sind das genau?
Dieser Tage werden die Deutschen gezählt. Die Statistiker kennen das Ergebnis schon vorher: Wir sind noch weniger, als wir bislang dachten. Die Politiker zeigen sich besorgt. Aber ist es nicht eine gute Nachricht, wenn die Masse im Massenzeitalter abnimmt?
Alles ist relativ, gewiss. Aber meist hält man schlicht das für normal, was in der Kindheit normal war. Menschen sind so. Im Falle eines DDR-Geborenen gehört dazu, dass das Professorenkind mit den Nachkommen der Küchenhilfe befreundet ist, nicht wegen der vorsätzlichen sozialen Gleichmacherei, sondern weil es keine Indikatoren dagegen gab. Alles andere wäre nicht normal gewesen.
ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Ende letzten Jahres erschien ihr neues Buch "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich", im Propyläen-Verlag.
Normal war für die um 1960 Geborenen weiterhin, dass die Menschheit 4 Milliarden Mitglieder hat. So haben wir es in der Schule gelernt und eigentlich nur behalten, weil das so ungeheuer viele waren. Und nun sind wir, die Massen der Erde, zwangsvereinigt auf diesem Planeten, bald 7 Milliarden. Das ist nicht normal. Und im Jahre 2100 werden wir mehr als 10 Milliarden sein. Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Prognose soeben korrigiert, nach oben.
10.100.000.000 Menschen. Es gibt nicht viele Vorteile, nicht mehr am Leben zu sein, aber einer wurde mir bei dieser Nachricht klar: Glücklich, wer nicht mehr dabei sein muss.
Angewidert vor der Masse
Die großen Egoisten des 19. Jahrhunderts sahen das schon genauso. Sie fürchteten sich vor uns. Zur Goethezeit, um 1800, zählten die Deutschen noch 25 Millionen, um 1900 würden es 68 Millionen sein; Tendenz offen.
Die Menschheit ist der Aussatz der Erde, befand der große Skeptiker Arthur Schopenhauer, angewidert von der eigenen Spezies. Und Friedrich Nietzsche schloss aus dem Anwachsen der größtmöglichen Zahl, deren größtmögliches Glück er nicht wünschte, dass der Sinn der Geschichte unmöglich an deren Ende, sondern in ihren höchsten Exemplaren liegen müsse.
Bemerkenswert ist, dass der Theoretiker der Bevölkerungsexplosion Thomas Robert Malthus seine hellsichtigen, lebenskalten Thesen bereits 1798 aufstellte, als es, wie gesagt, erst 25 Millionen Deutsche gab. Auch die Bevölkerung seiner prosperierenden Heimatinsel wuchs noch durchaus verhalten, doch der Zukunftsfühlige war alarmiert. Sie wuchs! Krankheiten, Seuchen und Katastrophen schienen ihre im Schöpfungsplan vorgesehene Arbeit einstellen zu wollen: Bevölkerungsregulierung.
Wohlstand als Verhängnis
So war der wachsende Wohlstand Englands statt der Lösung Teil des Problems: Zwar mied dieser Wohlstand - absolut gesehen - das Volk, so gut er konnte, und doch wurden - relativ gesehen - immer mehr Menschen satt, was nach Malthus nur eins bewirken kann: den Untergang. Denn das Volk vermehrt sich blindwütig, ja mathematisch gesehen exponentiell.
Aufs Weltganze gesehen, scheint der weltweit erste Professor für Politische Ökonomie recht behalten zu wollen. Dies ist keine Behauptung, sondern die Formulierung eines Anscheins. In einem intellektuell genügsamen Gemeinwesen, in dem Wortgruppen wie Fakten! Fakten! Fakten! schon als Wahrheitsbegriff durchgehen, scheint diese Betonung sinnvoll.
Nichts kann mehr täuschen als die vermeintlichen Fakten. Das Bild beginnt zu oszillieren, zwischen gestern und heute und morgen. Und führt die US-amerikanische Gegenwart nicht gerade Selbstverständigungsdiskussionen auf Malthus-Art? Was soll mit einem Menschen geschehen, den seine Familie nicht ernähren kann oder dessen Arbeit die Gesellschaft nicht nötig hat? Malthus: "Dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, diesen Befehl zur Ausführung zu bringen."
Aber die Wissenschaft war keineswegs bereit, alles der Natur zu überlassen. Sie schuf eine neue Disziplin, die "Bevölkerungsökonomie". Ihr Vokabular klingt vertraut, ganz wie die noch uns gebräuchliche Sprache der wirtschaftlichen Optimierung und Effizienz, nur dass es hier um das "Bevölkerungsoptimum" und die "Bevölkerungseffizienz" ging. Man musste nicht Anhänger Adolf Hitlers sein, um so denken, nur ganz Kind seiner Zeit.
Fehlprognosen der Dichter
Die Dichter dagegen sprachen, was in der Luft lag, diese neue Härte, die entzogene Gotteskindschaft mehr von innen her aus - Arthur Schopenhauer, der das Mitleid zur philosophischen Kategorie erhob, und Friedrich Nietzsche, der vielleicht als Erster die Kindheit fürs Denken entdeckte, ausdrücklich eingeschlossen. Die Dichter erkannten zuerst, was nun künftig wohl jeder ist: "überzähliges Dasein", wie Rilke sagt. "Mein Leben ist Zögern vor der Geburt", bekennt Kafka.
Nur eines hielten sie alle für unveränderlich. Nietzsche: "Das Weib hat zu gebären, und ist deshalb zum besten Berufe des Menschen da, als Pflanze zu leben." Weiter, da waren sie alle einig, würde es dieses Geschlecht nicht bringen. Die Schwangerschaft als Kardinalzustand habe seinen Charakter über die Jahrhunderte festgestellt.
Das war vielleicht die größte, die stillste, übersehenste Revolution des letzten Jahrhunderts: der lautlos erbrachte Nachweis, das alles am Weibe nicht nur eine Lösung hat, die Schwangerschaft (Nietzsche). Und warum sollte das nicht weltweit gelten?
Wirklichkeit - das Wort sagt es -, ist nicht das Gegebene, sie ist gewirkt. Viele sich überkreuzende Fäden führen in die Zukunft. Die Frage ist nur, welcher an der entscheidenden Schwelle stark genug sein wird. Und der Wohlstand fürs Volk, vor dem sich Malthus so fürchtete, ist Bedingung der Zukunft statt ihre Verhinderung.
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