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Kolumne Buchmessern (2)Ein Hauch von UNO-Vollversammlung

Hochs und Tiefs: Brasiliens Vizepräsident Michel Temer erntet Buhrufe. Der scheidende Außenminister Guido Westerwelle verbrüdert sich.

Zum Abschied tief gerührt: Außenminister Westerwelle auf der Frankfurter Buchmesse. Bild: dpa

Was bedeutet es, in dieser Region der Peripherie der Welt zu leben, auf Portugiesisch zu schreiben, für fast nicht vorhandene Leser, zu kämpfen also, Tag für Tag, umgeben von Widrigkeiten, dem Leben einen Sinn zu verleihen.“

Der Schriftsteller Luiz Ruffato stellte diese rhetorische Frage am Dienstagabend in seiner Rede im Congress Center der Messe in Frankfurt am Main. Vor einem geladenen Publikum wurde hier mit einer Feier zu Ehren des diesjährigen Gastlandes Brasilien die bis Sonntag dauernde Frankfurter Buchmesse eröffnet. Ruffato stand als literarischer Vertreter gemeinsam mit Ana Maria Machado an der Spitze der brasilianischen Delegation, die mit rund 70 Schriftstellern nach Frankfurt gereist ist.

Im Vorfeld hatte es Kritik am Auswahlverfahren der Brasilianer gegeben. Bestsellerautor Paulo de Coelho meinte, es seien zu viele unbekannte Autoren berücksichtigt, und spielte auf die brasilianische Vetterles-Wirtschaft an. Andere wie Wagenbach-Autor Paulo Scott („Unwirkliche Bewohner“) kritisierten die Unterrepräsentanz farbiger Schriftsteller. So blieb es Luiz Ruffato in Frankfurt vorbehalten, der Stimmung in der brasilianischen Delegation Worte zu verleihen.

„Ich glaube, vielleicht naiv, daran“, sagte er, „dass Literatur etwas verändern kann“, und sprach dabei von seiner eigenen Unterschichten-Biografie: „Als Kind einer Analphabetin und Waschfrau, eines des Lesens fast unkundigen Popcornverkäufers, selbst Popcornverkäufer, Kassierer, Textilarbeiter, Dreher, Inhaber einer Imbissbude, wurde mein Leben verändert durch den, wenn auch zufälligen, Kontakt mit Büchern.“

Ruffato ließ es sich nicht nehmen, in Frankfurt die Klassenfrage zu stellen. Er erntete dafür stürmischen Applaus. Ob seine Romane (Deutsch bei Assoziation A) literarisch dem standhalten, was seine nach herrschendem PT-Muster Vorzeigebiografie verspricht, steht auf einem anderen Blatt.

Westerwelle tief berührt

Jedenfalls zeigte sich auch der scheidende Außenminister Guido Westerwelle (FDP) von Ruffatos Ansprache „tief berührt“. Ja, fast hätte man glauben können, Dilma Rousseffs in Brasilien regierende Sozialdemokraten vom Partido dos Trabalhadores seien die Schwesterpartei der Liberalen. Ein Hauch von UNO-Vollversammlung wehte durchs Messe-Center, als Westerwelle zu seinem Abschied die Wichtigkeit der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit beschwor. Wirtschaftlich sowieso, in der gemeinsamen Zurückweisung US-amerikanischer Spähprogramme allemal, aber vor allem auch in der Forderung nach einer Neu-Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates.

Da staunten manche der Kulturellen nicht schlecht, auch über die bildliche Inszenierung im Hintergrund der Redner. Während Westerwelle sprach, war rückwärtig in den Raum ein Foto eines an einem Geländer angeschlossenen Fahrrades projiziert, darunter die Schrift: „Don’t use the phone. People are never ready to answer it. Use poetry. Jack Kerouac.“

Eine leicht dadaistische Note hatte dann auch der Auftritt des brasilianischen Vizepräsidenten Michel Temer. Seine demokratische Partei befindet sich im Regierungsbündnis mit Dilma Rousseffs PT. Der gelernte Anwalt suchte sich wie Ruffato als Sendbote des Proletariats darzustellen, sprach ausschließlich in erster Person über Brasiliens Geschichte und Kultur, der Mann schreibt nämlich auch noch Gedichte. Aus der brasilianischen Delegation hallten dafür kräftige Buhrufe durch den riesigen Messesaal.

Anschließend konnte man sich in dem angrenzenden, modern und freundlich gestalteten, sehr lichten Pavillon des Gastlandes bei einem Glas Caipirinha in der Hängematte entspannen und Bossa Nova hören.

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Andreas Fanizadeh
Ressortleitung Kultur
Andreas Fanizadeh, geb. 1963 in St.Johann i.Pg. (Österreich). Kulturpolitischer Chefkorrespondent der taz. Von Oktober 2007 bis August 2024 Leiter des Kulturressorts der taz. War von 2000 bis 2007 Auslandsredakteur von „Die Wochenzeitung“ in Zürich. Arbeitete in den 1990ern in Berlin für den ID Verlag und die Edition ID-Archiv, gab dort u.a. die Zeitschrift "Die Beute" mit heraus. Studierte in Frankfurt/M. Germanistik und Politikwissenschaften.
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4 Kommentare

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  • L
    lowandorder

    "…an einem Geländer angeschlossenen Fahrrades projiziert, darunter die Schrift: „Don’t use the phone. People are never ready to answer it. Use poetry. Jack Kerouac.“

     

    - eins ist sicher:

    seinem Alten hätte das gefallen;

    aber FDP hätte der dewrgen trotzdem nicht gewählt!

  • N
    Nikolaus

    Hat Herr Fanizadeh die Rede Ruffatos eigentlich gehört? Es scheint nicht so, deshalb sei die Lektüre der NZZ empfohlen, die sie im Wortlaut ins Deutsche übersetzt abgedruckt hat. Ruffato hat der Arbeiterpartei ihre selbstgerechtigkeit um die Ohren gehauen. Eine schonungslose Analyse der brasilianischen Gesellschaft, nicht nur historisch, sondern auch und vor allem heute abgeliefert. Nicht umsonst ist der brasilianische Feuilleton und die Regierung in Aufruhr. Solch ungebührliches Verhalten hatte man vom Auftaktredner nicht erwartet. Schade. Wieder einmal ein Taz-Artikel, der mehr verwirrt als aufklärt. Ärgerlich.

    • 1
      123
      @Nikolaus:

      Der Artikel ist wirklich etwas langweilig und wenig informativ. Schade. Danke für den Hinweis auf die NZZ.

  • Vielleicht bin ich ja zu doof für die taz, aber es hätte mir das Verständnis dieses Berichts erheblich erleichtert, wenn nur ein einziges Mal die PT ausgeschrieben worden wäre (Partido dos Trabalhadores) oder, noch besser, dabei sogar als Arbeiterpartei bezeichnet worden wäre.