Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Schweigen und Rauch
Wie vertreibt man sich die Nachweihnachtszeit? Mit vernebelten, links-elitären Proklamationen in der heimatlichen Stammkneipe.
M ittwoch, halb fünf Uhr morgens. Inzwischen zwei Tage nach Heiligabend. Ich sitze mit zwei abendländischen Genossen, die keine Lust auf familiäre Besinnlichkeit haben, vor der charmant abgefuckten Alternativo-Hardcore-Punk-Bar, in die wir uns früher jedes Wochenende geflüchtet haben. In unserer fränkischen Heimatstadt der einzige Ort, an dem man keinen Smalltalk über das Wetter führen muss. Hier können wir auf Möchtegern-Linksintellektuelle machen und über Kapitalismus diskutieren, während Slime im Hintergrund „Deutschland muss sterben!“ grölen. Seit wir drei in verschiedenen Städten studieren, treffen wir uns nur noch drei Mal im Jahr hier.
Gerade erholen wir uns von dem Rave, der im kleinen Saal neben der Bar stattfindet. Ob der Bass aus dem Saal oder in meinem Kopf dröhnt, weiß ich nicht. Ein Teil unseres Trios ist alkoholisiert. Der Anthropologie-Student ist unser Fahrer. Wir entscheiden uns das zu tun, was wir um diese Uhrzeit immer tun: möchtegern-linksintellektuell über Kapitalismus diskutieren. Der Anthropologie-Student beginnt: „Du kannst Kapitalisten nicht vorwerfen, Kapitalisten zu sein.“ Der Germanistik-Student zündet sich seine neunte Kippe des Abends an.
Entsetzt erwidere ich: „Natürlich kannst du das! Der Kapitalist entscheidet sich, Kapitalist zu sein.“ „Nein, er wirkt nur unter dem vorherrschenden System und das System gilt es zu ändern.“, pflichtet der Germanistik-Student dem Anthropologie-Studenten bei. Ich klaue ihm die Kippe aus der Hand und nehme einen tiefen Zug. Hustend meine ich: „Absolut. Aber wie willst du das tun, wenn nicht durch die Bekämpfung der Akteure, die das System aufrechterhalten?“ „Du kannst sie nicht effektiv bekämpfen. Sie machen den Kapitalismus schon seit Jahrzehnten menschenfreundlicher. Das ist auch gut so.“, entweicht es dem Barkeeper. Er hatte sich unbemerkt zu uns an den Tisch gesetzt.
„Der Kapitalismus hat nun einmal für Wohlstand gesorgt. Meine Großmutter hat 14 Stunden am Tag auf dem Land gearbeitet. Ich arbeite nicht mal annähernd so viel, war auch ne Weile arbeitslos. Trotzdem kann ich mir kaufen, was ich will, und hab am Ende noch 50 Euro übrig. Ich brauch ja keine Jacht oder so.“ Ich frage mich, ob der Barkeeper dicht oder breit ist. Oder ich ignorant. Und ob er den Tabak, den er rausholt, mit uns teilt.
„Das ist das Problem“, erwidere ich, immer noch hustend: „Viele Menschen verdienen zwar nicht genug, um sich ein gutes Leben zu leisten, aber nicht so wenig, dass sie das System anzweifeln würden. Sie bekommen nicht mit, dass zwar die Arbeitslosigkeit zurückgeht, gleichzeitig aber immer mehr Menschen zwei oder drei Jobs brauchen, um zu überleben.“
Ein Zug fährt vorbei
Der Barkeeper verabschiedet sich, ohne seinen Tabak zu teilen und geht wieder an die Arbeit. Der Germanist zündet sich seine 1524. Kippe an. „Du musst sehen, als der Kapitalismus entstand, sah die Welt noch anders aus, im Spätmittelalter…“ „Ach laber nicht, der Kapitalismus hat schon in der Eisenzeit begonnen“, plärre ich ihn an. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich „Spätmittelalter“ gesagt hat, möchte aber trotzdem reden. „Yanis Varoufakis erklärt das zum Beispiel sehr anschaulich: Menschen wurden sesshaft, bildeten Gemeinschaften und fingen mit der Landwirtschaft an. Es gab einen Chef, der die Güter in Lagern hortete und deren Verteilung kontrollierte, obwohl er sie nicht herstellte. Damit dieses frühkapitalistische Herrschaftsverhältnis niemand anzweifelte, wurde der Klerus erfunden …“ „Absoluter Schwachsinn! Das stimmt einfach nicht!“ Der Germanist klopft verärgert mit der flachen Hand auf den Tisch, dabei fliegt ihm die Kippe aus seiner Hand in meine. Ich nehme einen Zug. Mir wird schlecht.
Der Anthropologie-Student schaltet sich beschwichtigend ein: „Der Klerus war vor allem im Mittelalter vom Staat emanzipiert, hatte sich losgelöst …“ „Und befehligte zusammen mit dem Adel die Kreuzzüge.“, unterbreche ich ihn. Ich weiß nicht, ob er mich hört, da die Punks am Tisch neben uns Arbeiterlieder schmettern. „Oder hatte in der französischen Nationalversammlung, oder wie der Bums hieß, gleiches Stimmrecht wie Adel und Volk: Ein Drittel. Und stimmte dann jedes Mal mit dem Adel gegen das Volk. Obwohl das Volk 99 Prozent der Bevölkerung stellte.“
Ich habe vergessen, dass sich neben der Bar Bahngleise befinden. Ein Zug fährt gefühlte zehn Minuten lang vorbei und übertönt den Bass aus Saal und Kopf, samt Lieder der Punks.
Schweigen und Rauch. Nach einer Weile meint der Anthropologie-Student: „Eigentlich wollen wir das Gleiche: Den Kapitalismus überwinden.“ „Richtig“, unterstützt der Germanistik-Student und erklärt mir: „Der einzige Unterschied: Wir glauben, er kann durch das Lehren von Theorien überwunden werden, du glaubst, durch Entmachtung. Das muss man doch irgendwie zusammenkriegen.“ Ich nehme einen Zug von seiner 1968. Kippe und rauche mir dabei ins Gesicht. Unter Tränen sage ich: „Klar, schaffen wir aber trotzdem nicht. Wir sind Linke.“ Schweigen und Bass. Wir wissen nicht, ob wir jetzt niedergeschlagen sein, noch etwas trinken oder wieder tanzen gehen sollen. „Also das Wetter macht mich echt fertig…“
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