Kolumne Am Gerät: Der Speer
Sie war mal eine gute Siebenkämpferin. Davon wusste der Chef aber nichts. Sie aber wusste, das er Kampfrichter bei Leichtathletikveranstaltungen war.
S chwester Britta ging noch einmal zum Spiegel. Da war sie wieder, diese Röte. Als sie an ihn dachte, daran, dass er gleich seine große Hand auf ihren Rücken legen würde, schoss ihr das Blut ins Gesicht.
In zehn Minuten würde Dr. Bruhns, den sie so gerne Dietrich nennen würde, seine Kaffeepause beendet haben, würde zu ihrem Platz am Empfang kommen, eine Hand auf ihren Rücken legen und fragen: „Na, was steht denn heute noch an?“ Für Dr. Bruhns mochte es nur ein Ritual sein, für Schwester Britta war es mehr. Wenn er sie berührte, genoss sie diesen Moment der Intimität.
Schwester Britta wusste alles über ihren Chef. Auch dass er im Sommer unterwegs war, um bei Leichtathletikveranstaltungen als Kampfrichter gesellschaftliches Engagement zu zeigen. Der blaue Blazer, den er dabei meist anhatte, stand ihm beinahe ebenso gut wie der Kittel.
ist taz-Sportredakteur. Er berichtet während der Olympischen Spiele aus London.
Er aber wusste nichts über sie. Auch davon, dass sie einmal eine gute Siebenkämpferin war, die bei deutschen Meisterschaften zwei Mal unter die ersten Zehn gekommen ist, hatte er keine Ahnung. Seit ein paar Wochen trainierte sie wieder. Schwester Britta hatte sich vorgenommen, Dr. Bruhns bei den deutschen Meisterschaften in der Altersklasse W40 zu beeindrucken.
Und tatsächlich warf sie den Speer weiter, als sie es sich selbst zugetraut hätte – fast 30 Meter. Danach stand er vor ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern und blickte sie mit seinen meerblauen Augen an. „Schwester Britta“, sagte er. „Ja“, hauchte sie und schloss die Augen. „Übergetreten, der Wurf ist ungültig“, sagte er. Und wieder hauchte sie: „Ja?“
Am Abend, wieder einmal allein in ihrem Bett, dachte Schwester Britta noch lange über diesen Tag nach. Sie wusste, dass sie sich in Dr. Bruhns nicht getäuscht hatte. Einen aufrichtigeren Menschen hatte sie nie kennengelernt. Er wollte seine Mitarbeiterin nicht bevorteilen.
Morgen würde er seine Hand wieder auf ihren Rücken legen. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie konnte nicht einschlafen. Warum hatte er sich so lange mit der späteren Siegerin unterhalten? Warum ist sie dann in sein Auto gestiegen? War sie wirklich übergetreten?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett