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Kolumne AfrobeatKinder des weißen Terrors

Dominic Johnson
Kolumne
von Dominic Johnson

Kein marokkanischer oder algerischer Rentner heißt die Anschläge in Paris und Brüssel gut. Aber der Terror hat eine Verbindung zu den Kolonialkriegen.

Frankreichs koloniales Erbe: Gedenkplatte in Paris für die Opfer des Algerienkrieges, der am 5. Juli 1962 endete Foto: ap

D rei Tage vor den Brüsseler Terroranschlägen, am 19. März, trat Frankreichs Präsident FrançoisHollande in Paris vor die französische Gedenkstätte für die Toten des Algerienkrieges und legte einen Kranz nieder. Der 19. März erinnert an den Tag des Inkrafttretens des Waffenstillstandes von Evian im Jahr 1962 nach fast siebeneinhalb Jahren Krieg mit mindestens 400.000 Toten. Kurz darauf wurde Algerien unabhängig. Der Algerienkrieg war der blutigste Kolonialkrieg Frankreichs, seine Opfer zu ehren sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Ist es aber nicht. Die Gedenkstätte gibt es erst seit 2002, den Gedenktag seit 2012, und 2016 war das erste Jahr, in dem überhaupt ein französischer Staatspräsident ihn beging. Hollandes konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy schimpfte, dieses Datum sei eines französischen Staatschefs unwürdig, denn es bedeute, „dass es jetzt eine gute und schlechte Seite der Geschichte gibt und dass Frankreich auf der schlechten Seite stand“.

Was ja nicht sein kann. Unter Präsident Sarkozy waren Frankreichs Geschichtslehrer angehalten, im Schulunterricht die guten Seiten der Kolonialherrschaft hervorzuheben, und er selbst dozierte vor afrikanischem Publikum, „der afrikanische Mann“ sei „noch nicht in die Geschichte eingetreten“; all das ist keine zehn Jahre her. Was hat das mit Brüssel zu tun? Nichts. Und doch sehr viel.

Der Paris-Attentäter Salah Abdeslam, dessen Verhaftung in Brüssel am 18. März möglicherweise seine Freunde zu den Anschlägen vom22. März provozierte, ist Sohn eines Marokkaners, geboren 1949 im algerischen Oran. Seine Familie zog während des Algerienkrieges zurück nach Marokko, ins heimatliche Rif an der Mittelmeerküste, wo er heiratete und dann nach Frankreich auswanderte; deswegen ist sein jetzt inhaftierter Sohn, obwohl in Belgien geboren, Franzose. Marokkos Rif war in den 1920er Jahren Schauplatz eines französisch-spanischen Krieges gegen eine Unabhängigkeitsbewegung, der mindestens so brutal war wie später der in Algerien.

Frankreich setzte dort erstmals Luftwaffe und Chemiewaffen gegen Zivilisten ein. Spaniens Rif-Kommandeure trugen ihren Krieg in die Heimat und errichteten die Franco-Diktatur. Ebenso wie Spaniens General Franco war auch Frankreichs Vichy-General Pétain Kommandeur im Rif-Krieg. In der Kontinuität des Vichy-Faschismus wuchs eine antigaullistische Rechte, die den Verzicht auf Algerien mit Gewalt bekämpfte und aus der später der Front National wurde.

Mögliche familiäre Prägung

Die Pariser und Brüsseler Attentäter sind sämtlich nordafrikanischer Herkunft, ihre Eltern und Großeltern sind Überlebende der Kolonialkriege. Man spricht viel über die Radikalisierung dieser Jugendlichen in Syrien, aber wenig über ihre mögliche familiäre Prägung. Kein marokkanischer oder algerischer Rentner in Frankreich oder Belgien heißt den islamistischen Terror der Gegenwart gut. Aber der Staat, dem dieser Terror gilt, war früher ihr Feind.

Frankreichs Vorgehenin Algerien war einfach und brutal: Zivilisten sind legitimes Kriegsziel

Frankreichs Vorgehen in Algerien war einfach und brutal: Zivilisten sind legitimes Kriegsziel, außer wenn sie ausdrücklich die Kolonialmacht unterstützen. Die französische Strategie der verbrannten Erde in Algerien ist als Militärdoktrin Vorbild für alle schmutzigen Kriege der Welt geworden, von Vietnam über Mittelamerika bis Irak. Auch Assads Armee in Syrien wendet sie fleißig an.

Wenn die Enkel der Überlebenden der Kolonialkriege den Staat, in dem sie aufwachsen, nicht als den ihren begreifen, liegt das nicht daran, dass Islamisten sie einer Gehirnwäsche unterzogen haben. Sie werden für islamistische Propaganda überhaupt erst empfänglich, weil sie sich in Europa vaterlandslos fühlen. Das liegt am Unvermögen der einstigen Kolonialmächte, die eigenen Verbrechen und deren Opfer anzuerkennen.

Folterer in Uniform

Eine Zeitreise liefert Beispiele. Genau 60 Jahre vor dem Brüsseler Anschlagstag des 22. März 2016, am 22. März 1956, fiel in Algerien der Leiter des ersten antikolonialen Aufstandes im Aurès-Gebirge und Mitgründer der Befreiungsbewegung FLN, Moustapha Ben Boulaid, einem staatlichen Terroranschlag zum Opfer: Französische Agenten hatten sein Transistorradio mit Sprengstoff präpariert. Am 22. März 1962 beschoss die antigaullistische französische Terrorarmee OAS aus Protest gegen den Waffenstillstand von Evian die Kasbah von Algier mit Raketen, 24 Menschen starben – auch dies ein Terrorakt.

Der 22. März 1962 war auch der Tag, an dem Frankreichs Regierung offiziell alle algerischen Befreiungskämpfer amnestierte. Bis dahin wurden sie noch als Terroristen verfolgt, gefoltert und massakriert. Frankreichs späterer erster sozialistischer Präsident, FrançoiMitterrand, trug damals als Innenminister dafür Verantwortung, der spätere Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen war einer von vielen Folterern in Uniform.

Einen Schritt weiter zurück führt die Zeitreise zur Titelseite des Toulouser Express du Midi vom 13. November 1925, 90 Jahre vor den Attentaten von Paris. Neben einer sorgenvollen Betrachtung der Krise der Intelligenz stehen da Nachrichten über Kämpfe in Syrien sowie über „marokkanische Angelegenheiten“, in denen beklagt wird, dass aufgrund schlechten Wetters die Luftangriffe im Rif pausierten. Aus dem marokkanischen Rif stammen so gut wie alle der Familien der Pariser und Brüsseler Attentäter. Solange Frankreich sein eigenes gestörtes Verhältnis zu Nordafrika nicht bereinigt, hat es Nordafrikanern keine Lektionen in Sachen Zivilisation zu erteilen.

Die französische Gedenkstätte heißt übrigens mit vollem Namen „Nationale Gedenkstätte des Krieges in Algerien und der Kämpfe in Marokko und Tunesien“ und besteht aus drei fünf Meter hohen Stelen in den französischen Nationalfarben. Die erste gedenkt der 23.000 gefallenen französischen Soldaten. Die zweite gedenkt der Opfer der Befreier nach Kriegsende sowie den Opfern eines Massakers an algerischen Demonstranten in Paris 1961. Auf der dritten Stele kann man interaktiv Namen suchen. Von den Hunderttausenden algerischen, marokkanischen und tunesischen Toten ist auf den drei Stelen keine Rede. Für sie gibt es eine Gedenktafel. Am Boden.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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12 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Die französische Strategie der verbrannten Erde in Algerien ist als Militärdoktrin Vorbild für alle schmutzigen Kriege der Welt geworden..."

     

    Ich habe lange nicht mehr so einen Blödsinn gelesen: Schon Dschingis Khan hat diese Strategie angewendet und die Auswirkungen sind bis heute nicht behoben: Im Norden des Iraks ließ Khan ALLE Brunnen vergiften.

     

    Aber schon lange davor gab es die Römer, die in Karthago tonnenweise Salz auf die Äcker streuten, um das Land unfruchtbar zu machen.

     

    Also: Bitte erst ein bißchen in die Geschichtsbücher schauen und DANACH etwas schreiben.

    • @Jens Frisch:

      Es gab im algerischen Unabhängigkeitskrieg die 'Französische Doktrin', die gezielt von den französischen Strategen entwickelt wurde. Die wiederum wurde von südamerikanischen Militärjuntas und auch von der CIA als Blaupause übernommen...

      https://de.wikipedia.org/wiki/Franz%C3%B6sische_Doktrin

       

      Ich bin ja nicht der Meinnung, dass soetwas salopp mit Dschingis Kahn relativiert werden sollte...

  • "Wenn die Enkel der Überlebenden der Kolonialkriege den Staat, in dem sie aufwachsen, nicht als den ihren begreifen liegt (das) am Unvermögen der einstigen Kolonialmächte, die eigenen Verbrechen und deren Opfer anzuerkennen."

    Das ist eine Behauptung, die leider im Folgenden nicht wirklich begründet oder gar belegt wird. Kann also stimmen, oder auch nicht.

    Wenn sie sich dann tatsächlich "vaterlandslos" fühlen, dann liegt Bomben legen nahe? Warum nicht ins vermeintlich bessere Vaterland umziehen? Ach, da ist es nicht so gut, aber das liegt natürlich an der kolonialen Vergangenheit, bevor die Franzosen kamen, war es ein Paradies.

    Es ist gut, die Geschichte nicht zu vergessen, aber das "Vaterland" sollten wir möglichst schnell abschaffen, gerne ist von Identität die Rede, dabei geht es zumeist darum, sich in irgendeiner Weise abzuheben und somit als besser zu fühlen.

    Meine Familie stammt aus Polen, aber wir haben hier schon vor den Kniefall gerne gelebt und unsere Chancen gesehen und genutzt, und ich vaterlandsloser Geselle hab auch in den wirren Zeiten der Jugend, wo man nach Orientierung und Werten sucht, nie daran gedacht, Bomben auf meine Mitmenschen zu werfen.

  • Marokkaner hatten aber keine kolonialen Erlebnisse mit Belgien.

  • Nee, nicht selber schuld.

    Aber sowas kommt von sowas.

    Das nennt sich 'Geschichte'. Das ist ja auch in Syrien aktuell zu beobachten...

  • Aha - ok - na dann! Verstehe ich den Artikel richtig und die Franzosen und Belgier also selber Schuld?

    • @Jan Emissio:

      Frankreich bombt gegen den IS.

       

      Wer im Ausland Krieg führt, sollte darauf eingestellt sein, dass es im Inland auch Opfer gibt.

       

      Kann ja sein, dass der Krieg der Franzosen gegen den IS "gerecht" oder sonstwas ist. Dass der IS dann mit seinen Mitteln zurückschlägt, sollte aber eigentlich nicht überraschen.

  • Es gibt viele Forme der Kolonisation. Ob über Missionierung, oder durch Anwendung von unfassbare Gewalt bis hin zu Kredite der IWF. Alle haben jedoch den Zweck die Ressourcen der jeweiligen Länder für sich zu vereinnahmen ohne das die ansässige Bevölkerung auch nur Ansatzweise hiervon profitiert. Sobald dann mal ein von den herrschenden Despoten aus der Reihe tanzt werd eine humanitaire Aktion mittels Krieg gestartet und dann folgt die Besatzung und den Wiederaufbau. Dies ist dann die win-win-win Situation.

  • Was haben wir Deutsche anderen Völkern alles angetan. 6 Mill. Juden umgebracht und Europa in Schutt u. Asche gelegt. trozdem trachtet uns kein Jude, Russe, Franzose, Sinti oder Homosexueller nach dem Leben.

    Es muss also noch etwas anderes sein wie nur die Vergabgenheit.

    • @Klempner Karl:

      'Wir Deutsche' haben auch, möchte man meinen, einen anderen Umgang mit der eigenen Geschichte. Zumindest legt mir das die Einleitung des Artikels nahe...

  • Ein Großteil der Deutschen Bevölkerung wird davon wahrscheinlich kaum etwas wissen. Daher schon wichtig an die Geschichte zu erinnern und das macht vielleicht auch deutlich, warum diese Staaten noch heute massive Probleme haben. Die Syrische Geschichte sieht auch nicht viel besser aus.

  • Danke! Sehr aufschlußreicher Artikel über die Geschichte.