Kolumne Älter werden: Oh, wie schön war Caroline
Das Bestürzende am Altern? Man wird mit immer mehr massenkompatiblem Schrott belästigt.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.
Im prähistorischen Zeitalter weit vor der Erfindung des PC (für alle), der CD und des iPod kam die Musik fast ausschließlich aus dem Radio, denn LPs waren damals zu teuer (18 DM) und für uns Schüler und Lehrlinge der Generation Beat meist unerschwinglich und die paar Singels (5 DM) - meine erste war "Tell me" von den Stones (1964) - auf dem Schrankplattenspieler im Wohnzimmer bald tausendmal abgespielt und entsprechend zerkratzt. Van Morrison setzte einem UNSERER Lieblingssender, Radio Luxemburg, den die heutige Generation 60 plus schon in den "Days before Rock n Roll" hörte, dann Jahre später ein musikalisches Denkmal. An den "Wireless knobs" seines Radios nämlich kurbelte auch der mit der Gruppe Them 1966 auf die Seite des Erfolgs durchgebrochene Ire schon in den 50er-Jahren wie wild herum - vielleicht auch wie WIR dann in den 60ern nachts unter der Bettecke - und holte sich Jazzer und schwarze Bluesmänner frei ins Haus.
Von Van und UNS auch gerne eingeschaltet wurde der Amisender AFN, dessen Moderatoren immer die brandneuen Hits aus den Staaten servierten - fast schon so frech und für das Establishment provokativ angesagt wie von Radiomann Sgt. Adrian Cronauer alias Robin Williams in dem wunderbaren Film "Good Morning Vietnam!". Oder wir suchten auf unseren Kofferradios von Grundig oder Telefunken den Piratensender Radio Caroline, der von einem Schiff im Ärmelkanal aus "Radar Love!" und andere Kontinentalknaller in den Äther jagte. Das Gefiepse in den Empfangsgeräten von damals liefert "Van the Man" in seiner Hommage an die Hochzeit des Radios übrigens mit. Wunderbar DAS alles - Nostalgie pur.
Und heute? Wer es wagt, etwa in Hessen das Radio anzuschalten, wird entweder von permanent überdreht mutmaßlichen Androiden mit überschnappenden künstlichen Stimmen zu Tode genervt, zur Teilnahme an blödsinnigen Gewinnspielen oder Umfragen genötigt und muss selbst die Wettervorhersage mit untergelegten hämmernden Beats ertragen. Oder man wird mit Musiktiteln belästigt, die von diesen fest auf ihren Studiositzen implantierten Moderatorenimitatoren "Oldies" oder "die besten Hits der 70er-, 80er- und 90er-Jahre" genannt werden, aber eigentlich nur massenkompatibeler Schrott sind.
Auch wer an Samstagen unterwegs in Hessen im Autoradio nur ein bisschen Bundesliga hören will, muss auf HR 1 - verlogene Eigenwerbung: "Mehr Fußball geht nicht!" - fürchterliche Musikattacken, grelle Trailer, herumkaspernde Junganimateure und massenweise sinnfreie Werbung über sich ergehen lassen. Exkurs: Bayern 1 suchen. Dort auf dem "Heute im Stadion" wird Fußball pur serviert. Und lustige Werbung gibt es nur in der Halbzeitpause: "Grüß Gott, Sepp, was derf i der bringe?" "Bringst mir aan Blutwurz, Resi, woast scho, den vom Penniger. Mei duat der guat!"
Fazit also: Würden WIR von der "Silver-Sex-Generation" (sehr schön, die FAZ) den Selbstversuch wagen, und wie damals Radio unter der Bettdecke hören wollen, bekämen WIR sicher eine heftige Mittelohrentzündung. Immerhin aber würden WIR dann verstehen, warum das Rundfunkgebäude des HR in Frankfurt "Anstalt" heißt und der Programmverantwortliche Radio Jörg "Bombi" Bombach.
"Bombi" hat jetzt auch noch die legendäre - und letzte - Intellektuellensendung "Der Ball ist rund!" von UNSEREM Alterskameraden Klaus Walter aus dem Programm gestrichen. Eigentlich ein Ritterschlag für den Kollegen! Und WIR mit ihm älter werdenden Mitglieder der Generation 50 plus links bekreuzigen uns dreimal und bedanken uns bei "jenem höheren Wesen, welches wir verehren" (Böll) oder wenigstens bei allen irdischen Erfindern dafür, dass es heute tausend andere Möglichkeiten gibt, GUTE Musik zu hören - sicher auch auf HR 2 Kulturradio -, und dass WIR das kleine Radio in der Küche eigentlich nur noch beim Kochen einschalten müssen. Am Samstag wieder den Blutwurzsender Bayern 1.
Rein: CD "Enligthenment" von Van Morrison.
Raus: Nix.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs