Kolumne 90 Minuten: Schwarz-rot-goldener Brechreiz
Fußballgucken in der Nazikneipe: "Wie, Ümit? Ich dachte, da spielen nur Deutsche." Gelächter, Holger ist stolz. Auf was eigentlich?
21.30 Uhr, auf einer Kreuzung im Berliner Stadtteil Treptow: Ein Kanonenschlag explodiert, Raketen steigen. "Die sind aus Polen, nicht ganz legal", sagt ein Mann. Er grinst - und jagt den nächsten Feuerwerkskörper in die Luft. Dass es bis dato noch gar keinen Grund zum Feiern gibt, stört ihn nicht. Verständlich - wer weiß, ob der deutsche Sturm überhaupt noch trifft.
Der Mann mit dem Spieltrieb gehört zu den Besuchern des "08/15". Die Kneipe ist mit Bildern von Künstlern aus aller Welt tapeziert, von Elton John bis Depeche Mode. Zwei Häuser weiter locken türkische Teigtaschen Scharen von hungrigen Fans an die Theke. Doch die Gäste des "08/15" sind in erster Linie eines: deutsch. Und so unheimlich stolz darauf, dass man den Raum schon nach fünf Minuten am liebsten verlassen würde - Brechreiz inklusive. "Wenn der getroffen hätte, wären wir halt wieder eingeritten," höhnt einer, er wird Holger genannt, bei der vergebenen Chance Aufhausers. Seine Freunde stimmen ihm jubelnd zu: "Genau, heim ins Reich."
Holger hat noch mehr Parolen auf Lager. Als das österreichische Publikum mit einem langgezogenen "Üüüümit" ihren Liebling Ümit Korkmaz feiert, meint Holger: "Wie, Ümit? Ich dachte, da spielen nur Deutsche." Gelächter im Raum, Holger ist stolz. Auf was eigentlich?
Politisch interessiert ist hier angeblich keiner. "Da hocken sie, und wir zahlen dafür die Millionen", ruft einer, als die Riege der Bundesregierung gefilmt wird. Wen sie wählen? Darüber will keiner reden. Aber "seine Jungs" säßen nicht im Reichstag, sagt ein Mann. "Höhö." Klischees vom Rechten in Springerstiefel und Bomberjacke werden nicht bedient. Äußerliche Anzeichen für Nazis? Hier eine Glatze, dort ein abgewinkelter Hitlergruß. Aber abseits dieses Umfelds würde man wohl kaum einen von ihnen als Rechten identifizieren. Fans wie du und ich? Äußerlich ja. Doch rhythmisch wird "Sieg" gebrüllt, ein Angetrunkener grölt Wehrmachtlieder.
Es gibt Momente, in denen man stolz auf sein Land ist. Und es gibt andere Momente, Momente des Schams. Nicht wegen schwacher Fußballspieler oder einer unentschlossenen Bundeskanzlerin. Sondern wegen Nationalisten, die es immer noch an jeder Ecke gibt. Deutschland wäre ein schönes Land. Mit Schwarz-Rot-Gold. Ohne Nazis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern